„Sympathisch ist sie nicht. Wie ein Psychiater bescheinigt, verkörpert sie exakt den Typus der soziopathischen Persönlichkeit, egozentrisch und in den Begierden trivial.“ (Verena Auffermann et al. (Hrsg.): Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur, München: C. Bertelsmann 2009. S. 347)
So beschreibt die Kultur-Journalistin Elke Schmitter die Romanfigur, um die es in diesem Artikel gehen soll, und auch die Schöpferin dieser Figur geht nicht gerade zimperlich mit ihr um:
„Es hat mich merkwürdig berührt, dass [sie] eine Art Nationalheldin geworden ist, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es um die geistige Gesundheit eines Volkes schlecht bestellt sein muss, das eine solche Frau an sein Herz drücken möchte.“ (ebd.)
Die Rede ist vom „grünäugigen Monster“ Scarlett O’Hara, Protagonistin im weltweiten Bestseller Gone with the Wind von 1936 (deutsch: Vom Winde verweht). Wer noch das süßliche Bild von Vivien Leighs Filmverkörperung im Rüschenkleid vor sich hat, der kratzt nur an der Oberfläche dieser besonderen Frauenfigur, wie ihr an den obigen Zitaten ablesen könnt. Sie ist nicht nur trotzig und kokett, wie sie im Film dargestellt wird, sie ist eigentlich durch und durch unsympathisch – dass trotzdem Millionen von Leserinnen und Lesern mit ihrer Geschichte mitgefiebert haben, beweist die erzählerische Qualität von Margaret Mitchell. Sie erschuf diesen wahnsinnigen Wälzer von Roman (1500 Seiten in meiner englischen Ausgabe) über eine Frauenemanzipation während des amerikanischen Bürgerkriegs in 10 Jahren akribischer Arbeit. Herausgekommen ist eine wahre Tour de Force an persönlichen Kämpfen, Emotionen sowie historischen und soziologischen Details.
Alles nur Kitsch?
Ja, der Roman galt und gilt in Kritikerkreisen als Kitsch und ist bis heute als literarisch minderwertig verschrien (obwohl Margaret Mitchell 1937 den Pulitzerpreis dafür gewann). Seine Protagonistin steht für das Inbild der verzogenen Südstaaten-Lady, die mit den Männern kokettiert. Was kann diese Figur uns modernen Frauen schon geben, fragt ihr euch vielleicht.
Meine erste Begegnung mit Scarlett O‘Hara: Den Roman als Teenager lesen
Ich kann versuchen zu beschreiben, was sie mir gegeben hat. Mit 12 gab mir meine Mutter ihre Ausgabe von Vom Winde verweht zu lesen (ein Ziegelstein von einem Taschenbuch, engst bedruckte Seiten und ein hässliches Cover aus den Achtzigern). Ich hatte schon die halbe Jugendbücherei durch, und jetzt wollte ich einen „richtigen“ Roman lesen.
Ich war sofort gebannt. Das lag zum einen an der unheimlich plastischen, atmosphärischen Erzählweise von Miss Mitchell – schlagt das Buch auf, und ihr seid auf Tara, hört die Vogelstimmen, riecht den feuchten Duft der gepflügten Baumwollfelder. Und das lag zum anderen an Scarlett O‘Hara selbst. Ihre Rücksichtslosigkeit und ihre Entschlossenheit haben mir als schüchternem Kind unheimlich imponiert. Sie krallt sich zum Beispiel jeden Mann, weil es ihr Spaß macht (spannt sogar einmal ihrer Schwester den Verehrer aus), verfolgt trotzig ihre egoistischen Ziele und entwickelt sich später, nach dem Kriegsende im Roman, zur tüchtigen Geschäftsfrau. Der Roman entwirft das dramatische Epos einer mutigen Frau, die trotz Bürgerkrieg, Verlusten und des Widerstands der gesellschaftlichen Normen ihren eigenen Weg geht – und dabei nie ihre verflossene Jugendliebe vergisst, den Sohn der Nachbarsplantage, Ashley Wilkes. Er steht für ihre lebenslange kindliche Verblendung.
Ein Roman für den Teenager in uns allen
Als Heranwachsende habe ich vor allem mit den dramatischen Liebes- und Lebenswirren von Scarlett mitgefiebert, wie sie gegen Ungerechtigkeiten, Hunger und Enttäuschungen ankämpft und starrsinnig weiter ihre Ziele verfolgt: Ashley zurückzugewinnen und Tara (die elterliche Plantage) wiederaufzubauen. So erfuhr ich Vom Winde verweht vor allem als Melodram oder Abenteuerroman mit einer wunderbar unreifen, unsympathischen, aber unwiderstehlichen Heldin. Wenn die britische Journalistin Hannah Betts schreibt: „Gone With the Wind – and Leigh’s immortal performance in it – speak to the eternal teenager in us all.“, dann kann ich ihr durchaus rechtgeben. Scarlett O`Hara wächst in bestimmten Aspekten nie über das Teenager-Alter hinaus, sie bleibt eitel und herrschsüchtig wie ein verzogenes Kind. Aber genau das sprach mich damals an und begeistert mich heute noch.
Meine zweite Begegnung mit Scarlett O‘Hara: Die Verfilmung
Da DAAA da daaaaaa …. Hach ja, beim Gedanken an Vom Winde verweht hat bestimmt jeder das berühmte Tara-Thema im Ohr. Dazu die junge Vivien Leigh im weißen Rüschenkleid vor einem atemberaubenden, goldenen Abendhimmel – in der Ferne leuchten die weißen Säulen der Plantagenvilla auf … Sowohl Buch als auch Film kamen in den amerikanischen Südstaaten so gut an, weil sie den „Mondschein-und-Magnolien-Mythos“ bedienten, also das verklärte Bild der Antebellum-Ära. Der Kulturhistoriker Michael Hochgeschwender beschreibt den Mythos so:
„Junge, elegante Kavaliere mit ihren berückend schönen Begleiterinnen beim Zirpen der Grillen, Mint Julep trinkend in einer Mondscheinnacht unter dem hellen Vollmondhimmel Old Dixies; die Männer aristokratischer, die Frauen schöner als jemals in der Realität (…)“. (Michael Hochgeschwender: Der amerikanische Bürgerkrieg, München: C. H. Beck 2010, S. 130).
Der Film von 1939 war ein Blockbuster seiner Zeit und musste noch viel dicker auftragen als das Buch, um die romantische Sehnsucht der Südstaatler nach ihrer verlorenen Welt zu befriedigen. Heraus kam eine melodramatische, grell-bunte (es war einer der ersten Farbfilme überhaupt, und es war wohl nicht möglich, natürliche Töne aufzunehmen) und läppisch wirkende Nacherzählung der eigentlich ernsten Romanhandlung. An der Verfilmung kommt man einfach nicht vorbei, aber er ist leider verantwortlich für das verkitschte Bild, das sich von Scarlett O’Haras Geschichte in den Köpfen verfestigt hat. Schon beim ersten bewussten Sehen viel mir sofort auf, wie stark die Handlung beschnitten wurde. Psychologische Entwicklungen kommen so viel zu kurz und die Motivationen der Figuren erscheinen künstlich, weil einfach der Kontext fehlt. Schade.
Das Interessante am Roman (im Gegensatz zum Film) aber ist: Scarlett O‘Hara verfällt, anders als ihre Zeitgenossen, dem ewigen Hinterhertrauern nach der „guten alten Zeit“ nicht. Nachdem sie vor Belagerung und Brandschatzung in Atlanta geflohen ist, plündern feindliche Soldaten Tara, sodass ihre Familie kurz vor dem Verhungern steht. Sie aber rappelt sich auf und kämpft für eine bessere Zukunft. Zudem verachtet Scarlett den Patriotismus ihrer Mitmenschen und sieht nicht ein, Hunger und Mühsal leiden zu müssen für einen Krieg, den sie nicht begonnen hat.
Scarlett O‘Haras Rebellion gegen die Männerwelt
Nebenbei wird so Scarletts Widerstand gegen den gesellschaftlichen Mainstream ihr weiblicher Widerstand gegen die Männer. Denn natürlich haben die leichtsinnigen Männer in ihrer Arroganz den Krieg begonnen. Und die Frauen lassen sich blind und treu in diesen Krieg führen. Nicht so Scarlett. Während des Krieges muss sie angestrengt ihre Gleichgültigkeit angesichts der allgemeinen Kriegsbegeisterung verbergen und hasst nichts mehr, als im Lazarett Verwundete zu pflegen. Danach tut sie alles, um Tara vor der Zwangsversteigerung und ihre Familie vor dem Verhungern zu retten, und wenn es noch so „unweiblich“ oder „unpatriotisch“ ist. Selbst von Rhett Butler, der ihr zunächst hilft, eigenes Denken zu entwickeln, macht sie sich unabhängig.
Im Angesicht dessen ist es mir rätselhaft, wie Scarletts Figur trotzdem zur Nationalheldin der Südstaaten werden konnte. Scarletts Verachtung für den Südstaatler-Patriotismus wird in der Verfilmung nicht so recht deutlich.
Meine dritte Begegnung mit Scarlett O‘Hara: Tara Revisited (den Roman heute lesen)
Heute sehe ich viele Dinge anders als noch mit 12, 15 oder 20 Jahren. Ich schätze Scarlett jetzt aus anderen Gründen als noch als Teenager. Sie ist eine schizophrene Figur. Sie ist zutiefst pragmatisch, weint aber jahrelang einem verheirateten Mann hinterher. Sie muss alle ladyliken Verhaltensweisen heucheln und findet es mehr und mehr unsinnig, sich vor Männern dumm zu stellen, nur damit diese nicht von ihrem Verstand abgeschreckt werden, genießt ihre Popularität aber über die Maßen, die sie durch ihr Heucheln erlangt. Sie kämpft um Tara und für den Unterhalt ihrer Familie, zu ihrem kleinen Sohn und zu ihren Schwestern ist sie aber herrschsüchtig und aggressiv. Wo alle anderen Figuren Typen bleiben, wird Scarlett durch diese Widersprüchlichkeiten zu einer runden Figur. Sie hat Fehler und ist gemein zu ihren Mitmenschen, aber das macht sie nur umso menschlicher.
Das englische Original: Überraschend sachlicher Erzählton
Wichtig war auch, zum ersten Mal das englische Original zu lesen. Die deutsche Übersetzung ist nämlich nicht nur gekürzt, sondern besitzt auch eine viel kitschigere Wortwahl als das Original.
Ein Beispiel: Schon der erste Satz des Roman klingt doch viel betulicher als das Original:
„Scarlett O‘Hara was not beautiful, but men seldom realized it when caught by her charm as the Tarleton twins were.“ (Margaret Mitchell: Gone with the Wind, New York: Simon & Schuster 2008, S. 3) im Vergleich zu:
„Scarlett O‘Hara war nicht eigentlich schön zu nennen. Wenn aber Männer in ihren Bann gerieten, wie jetzt die Zwillinge Tarleton, so wurden sie dessen meist nicht gewahr.“ (Margaret Mitchell: Vom Winde verweht, Hamburg: Rowohlt 1990, übersetzt von Martin Beheim-Schwarzbach, S. 7)
Der auktoriale Erzähler in Gone with the Wind berichtet die Ereignisse höchst sachlich, mit einem beinahe sezierenden Blick auf Scarletts Charakterfehler, auf ihre Verblendungen und ihre zerstörten Träume. Mit schwülstigen Begriffen und umständlichem Satzbau macht die deutsche Übersetzung diesen kühlen Blick von außen oft zunichte.
Die Rolle der Sklaven in Vom Winde verweht
Den Rassismus stellen freilich weder Original noch Übersetzung, und schon gar nicht die Verfilmung, in Frage. Die schwarzen Sklaven sind vor allem im ersten Teil des Buches vor allem Hintergrunddekoration. Während der Restaurationszeit nach dem Bürgerkrieg, als die Südstaatler sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, dass den ehemaligen Sklaven irgendwelche Rechte zugestanden werden, tritt der Ku Klux Klan wie eine Selbsthilfegruppe verzweifelter weißer Männer auf, die ja nur ihre Frauen beschützen wollen. Nichts daran ist natürlich in Ordnung. Als ich älter wurde, hatte ich deswegen auch längere Zeit ein schlechtes Gewissen, das Buch überhaupt gut zu finden (habe ich immer noch zum Teil).
Was trotzdem beachtet werden sollte: Gone with the Wind stellt dar, welchen Wert die Sklaven für die Pflanzer hatten. Ähnlich wie im Römischen Reich waren sie kostbare Besitztümer, zu kostbar, um sie mutwillig zu „zerstören“. Ich finde es daher glaubhaft, wenn berichtet wird, dass auf Tara noch nie ein Sklave ausgepeitscht wurde. Eine andere Sache ist es natürlich, die schwarzen Sklaven wie unmündige Kinder zu behandeln (und sich dann zu wundern, wenn sie nicht selbständig handeln können). Und das alles rechtfertigt natürlich nicht die Institution der Sklaverei an sich.
Fazit
Scarlett O‘Hara kann einem auf die Nerven gehen, aber sie hat mehr Facetten als viele zeitgenössische Frauenfiguren: Sie ist klug, stolz, eitel und zupackend zugleich und entwickelt sich zu einer emanzipierten Frau, die sich von keinem Mann mehr etwas sagen lässt. Ganz „nebenbei“ lernt man durch ihre Augen die weibliche Sicht auf den Bürgerkrieg kennen: Entbehrung, Hilflosigkeit, Angst vor Vergewaltigung und Verlust von Freunden und Liebhabern – eine einzigartige Perspektive, die es sich einzunehmen lohnt.
6 Comments
Sabine von "Ant1heldin"
25. Februar 2018 at 10:28Hi Ulrike,
danke fürs Kompliment! Sehr cool, dass du das Buch gelesen hast! Die meisten sagen nur, nee, der Film ist mir zu kitschig, deshalb lese ich das Buch erst gar nicht. Es ist wirklich ein großer Unterschied, ne? Weite Teile handeln ja auch von Hunger und Armut, da gehts nicht nur um zimperliche Damen im Reifrock. Und es ist eine großartige Leistung, wie Margaret Mitchell ein Tableau der damaligen Sitten und Moralvorstellungen aufzeichnet – kann sich durchaus mit Tolstoi messen, finde ich.
Zum Rassismus: Ja, das ist wirklich bitter. Dabei hat sich M. Mitchell selbst für die Rechte der Schwarzen eingesetzt (hat “gemischte” Schulen gebaut, wollte gleiche Bildung für alle), was in den 30er, 40ern schon nochmal ne andere Nummer war als heute. Ich denke, es ging um das Gedenken an diese verlorene Welt des Südens, die sie zeichnet, aber eben auch um die schlechten Seiten dieser Welt (auch, wenn der Roman selbst sie verharmlost – man muss sich halt mit reflektierendem Verstand dransetzen). Ich finde, der Roman hilft dabei, auch noch die Metnalität der heutigen USA zu verstehen, und allein deswegen ist er es wert, gelesen zu werden.
LG, Sabine
Sabine von "Ant1heldin"
25. Februar 2018 at 10:18Hi Katie,
haha, dann weißt du ja was ich meine mit “engst bedruckt” – es gibt kaum einen Rand an den Seiten 🙂 Ja, lies auf jeden Fall das Original. Noch ein Beispiel für die kitschige Übersetzung? Scarletts Mutter ist “of French origin”, der Übersetzer machte daraus “von französischem Geblüt”. Ja, die Übersetzung ist von 1937, aber trotzdem 😉
Ja, das “Frankly my dear” ist schon zu Recht weltberühmt!
LG, Sabine
P.S.: Scarlett heißt im Buch mit vollem Namen Katie Scarlett 🙂
Katie
24. Februar 2018 at 19:32Ich habe meinen Blog nach einem Zitat aus “Vom Winde verweht” benannt. Und ich gestehe, ich habe das Buch nie gelesen. (Ehrlich gesagt fand ich das Zitat einfach nur ziemlich cool 😀 ) – Jetzt hast du mich aber doch sehr neugierig gemacht und tatsächlich liegt das Backstein-Taschenbuch mit wundervollem 80er-Jahre-Cover in meinem Regal. Ursprünglich ausgeliehen von meiner Mutter 😉 Aber nun überlege ich, doch direkt zur englischen Ausgabe zu greifen, das scheint mir sinnvoller zu sein.
Ulrike Skadir
24. Februar 2018 at 17:42Upps, entschuldigt bitte, da war ich wohl total verpennt. ?
Liebe Sabine, verzeih mir. Dein Beitrag ist großartig.
Aurelia, danke für den Wink und für das Veröffentlichen auf deinem Blog.
Liebe Grüße
Ulrike
Geekgeflüster
24. Februar 2018 at 11:46Hallo Ulrike, kleine Korrektur: Der Artikel stammt nicht von mir, sondern von Sabine, meiner Gastautorin, müsste sich also an sie richten. 🙂
Ulrike Skadir
24. Februar 2018 at 11:41Hallo Aurelia,
ich habe dem Film nie was abgewinnen können, war aber vom Buch positiv überrascht. Ich fand Scarlett O’Hara auch nicht sympathisch in dem Sinne, aber faszinierend und überzeugend. Antiheldin trifft es ganz gut.
Was den Rassismus angeht, fand ich es hart zu schlucken als ich das Buch das erste Mal las, speziell die Sache mit dem Ku Klux Klan. Inzwischen betrachte ich es als passendes Beispiel der Selbstverblendung, der eine solche Gesellschaft zum Opfer fällt.
Liebe Grüße
Ulrike