Die Welt der zwei Monde ist den wenigsten ein Begriff, aber verdient ist das nicht. Denn diese Welt ist jene, die mich seit 20 Jahren prägt wie keine andere, die mich inspiriert zu erzählen, zu lernen und zu schätzen. Oft höre ich „Das ist doch nur ein Comic!“, aber da fange ich schon an zu sagen: „Eben. Und jetzt hör zu.“
Angefangen hat es mit „ElfQuest“ gewissermaßen schon mit Marvels „Silver Surfer“ – Wendy Fletcher, 17 Jahre, lebt 1968 gut 200 Kilometer südlich von San Francisco und verschlingt diese damals neue Serie. Nachdem ihr begeisterter Leserbrief dazu abgedruckt wird, gerät sie in Kontakt mit Richard Pini aus Boston, Massachusetts. Auch ohne Internet und WhatsApp halten sie eben diesen Kontakt, heiraten 1972 – und die Welt der zwei Monde, die Comicserie ElfQuest wird geboren. Wenn wir also von „Herzenwelten“ schreiben wollen – dies ist im Ursprung die Herzenswelt zweier Menschen, die so unterschiedlich, aber doch so ähnlich sind, dass etwas daraus erwuchs, das Jahrzehnte und Kontinente überwinden kann.
Nachfahren der Fremden
Wendy Pini zeichnet also mit Richards storytechnischer Beratung und erzählt zu Beginn von Außerirdischen, die auf der Welt der zwei Monde stranden. Sie treffen auf Menschen, gerade einmal weit genug entwickelt, um nicht mehr als Tiere zu gelten. Der Versuch der „Hohen“, der Außerirdischen, sich an die neue, raue Welt anzupassen, scheitert an der menschlichen Angst vor dem Unbekannten. Überwältigt von der Gewaltbereitschaft der Menschen werden sie, trotz ihrer besonderen Fähigkeiten und ihrer Intelligenz, abgeschlachtet. Die wenigen Überlebenden ziehen sich zurück. Manchen von ihnen gelingt es jedoch, sich anzupassen – in der Natur bedeutet Anpassung oft Symbiose oder gar Fusion. Neben den telepathischen Fähigkeiten können hier insbesondere die gestaltwandlerischen Kräfte der Hohen helfen.
Zig Jahrhunderte später sind wir angelangt am Kern von „ElfQuest“ – den Nachkommen der Hohen, kleine, naturverbundene, vierfingerige und spitzohrige Wesen, die im Einklang mit dem Weg der Wölfe leben und auch deren Blut in sich tragen.
Kampf um Überleben und Identität
Der Leser begleitet den Stamm der Wolfsreiter auf der Suche nach einer Heimat, erfährt von ihrer Liebe und Opfer füreinander. Feindliche Menschen brennen ihren Heimatwald nieder und so ziehen sie los, treffen auf ihnen unbekannte neue Elfenstämme. Erfahren Neues im Guten und Schlechten, bemessen alte Werte an neuen Erfahrungen und fremden Traditionen. Was in ein Fantasiegewand verpackt worden ist, lässt sich übertragen auf das Hier und Jetzt – die Angst vor Unbekanntem ist so aktuell wie gefährlich. Wie die Elfen aber dennoch zusammenfinden, aber teilweise auch versagen bei dem Versuch, zu erhalten, Identität zu stiften und zu finden, zeigt uns jetzt, dass Perfektion ein ewiger Nicht-Zustand ist. Paradebeispiel ist hier „der Weg (des Wolfsreiters)“: Einerseits bedeutet diese Einstellung, den Tod in einer rauen Welt zu akzeptieren und Zeit keine Bedeutung beizumessen, weil es ausschließlich ein sinnvolles, ausgefülltes Leben im Kreise seines Stammes zu verbringen gilt. Andererseits zwingt der Verlust ihrer Heimat sie, alles hinter sich zu lassen und bei ihrem Treffen auf fremde Elfenkulturen Neues argwöhnisch zu betrachten. Schlussendlich wird aus dem Argwohn aber hier Akzeptanz, Integration, Liebe und Heranwachsen. Innerkulturelle Konflikte mit extrem traditionsbewussten Elfen sind da aber vorprogrammiert. ElfQuest beschränkt sich nicht nur auf Antagonisten, um die Hauptcharaktere dazu zu zwingen, vermeintlich feststehende Meinungen infrage zu stellen und Herzen zu brechen. Das Neue ist hier nicht immer böse, das Böse ist nicht immer neu.
Jedoch: Winnowill, neben den Menschen die große Antagonistin aus ElfQuest, ist eine Elfe, deren Bösartigkeit man nicht verstehen will, die in sich aber schmerzhaft schlüssig erscheint. Fast kann man ihr nicht böse sein, der machtbesessenen Heilerin, die ihre hilfreiche Fähigkeit hat verderben lassen ob eines viel zu langen Lebens und diese nur noch auf sehr lebensverachtende Weise für ihre Intrigen nutzt. Angesichts der psychischen und physischen Grausamkeit, die sie ihrem Umfeld, sogar ihrem eigenen Kind zuteil werden lässt, bleibt einem dann natürlich nichts anderes übrig, als sie zu verachten und zu hoffen, dass die Wolfsreiter die „Schlange“ davon abhalten können, noch mehr Leid zu bringen.
Die Freiheit zu sein und zu lieben
Als eine, die keine Freude an Geschlechterrollen hat, ja sogar genervt von Geschlechterklischees ist, empfinde ich ElfQuest schon fast befreiend in dieser Richtung: Die Frauen stehen den Männern in nichts nach – und andersherum. Jeder findet von alleine, völlig unabhängig von seinem Geschlecht, in eine Rolle hinein, die er/sie im Stamm ausübt. Es gibt sanfte, männliche Heiler und kampferprobte weibliche Elfen; niemand sagt, dass man als Elf nicht zu weinen habe, keiner schreibt einer Elfe vor, wie viele und welche Sexualpartner sie haben darf (yes, you heard me). Und wo wir bei Sexualität sind: Es ist erfrischend frei von läppischen Konflikten in einer Gruppe, wenn körperliche Liebe nicht vom Geschlecht oder Exklusivität abhängig gemacht wird. Die Wolfsreiter sind, ohne dass sie darüber sprechen müssten, quasi bisexuell und polyamor. Und das im Zeichen des uneingeschränkten Genusses des Lebens in all seiner Wildheit und Schönheit im „Jetzt“.
Unendliche Möglichkeiten
ElfQuest ist prädestiniert für zahllose Erweiterungen, die die Pinis auch wirklich in Angriff genommen haben. „Jink“ erzählt von einer Elfennachfahrin in der hochtechnisierten Zukunft auf der Welt der zwei Monde; „Wavedancers“ berichtet von Elfen, die im Meer leben. Mit Sonderausgaben wie „Hidden Years“ und „Shards“ werden einzelne Charaktere und Geschichtenstränge in den Fokus genommen und die Welt der Elfen ungemein verdichtet. Natürlich gibt es noch viel mehr, daher habe ich hier nur Beispiele genannt.
Für Fans ist das natürlich auch Inspiration dafür, etwas eigenes auf die Beine zu stellen – sich also nicht nur Elfennamen zu geben (meiner war „Schattenschwinge“, nun ja), sondern auch mit eigenen Stämmen in Form von Rollenspielen aktiv zu werden. In meiner Jugend waren das noch E-Mail-Rollenspiele, die über Yahoo!-Groups abgewickelt wurden, aber auch teilweise auf Fanseiten und (wirklich!) im Gästebuch der deutschen ElfQuest-Seite vom Carlsen Verlag verteilt waren.
Nicht bloß Schwarz-Weiß
Zeichnerisch habe ich bislang nichts Vergleichbares finden können – gerade die ursprünglichen Darstellungen in Schwarz-Weiß arbeiten ohne wirkliche Graustufen, sondern nur mit Schraffuren – ein unglaublicher Zeichenaufwand. Zusammen mit einer Erzählweise, die teils mehrere Panels ohne Sprechblasen auskommt, weil Inhalt über Körpersprache kommuniziert wird, ist ElfQuest auch hier schlicht einzigartig. Inspiriert wurde Wendy übrigens von Manga wie Kamui von Sanpei Shirato und Okami von Goseki Kojima – gerade die filmische Erzählweise hat Wendy beeindruckt.
In den letzten Jahren wurden die Ausgaben immer wieder coloriert, aber zu meinem Leidwesen nicht sehr gelungen. Dennoch wird man meist colorierte Fassungen auftreiben können, es sei denn, man ist so verrückt wie ich und durchforstet amerikanische Comicläden nach Erstausgaben von ElfQuest, die Wendy und Richard im Eigenverlag schwarz-weiß herausgegeben hatten. Aber, wie gesagt – PopCom hat sie für den deutschen Markt neu aufgelegt auf schönem Papier in angenehmer Größe und toller Druckqualität. Wer aber nicht gleich in diese Hardcoverbände investieren mag, findet 80% der existierenden ElfQuest-Comics kostenlos zum Lesen auf elfquest.com.
Das Jetzt ist der Weg
Die letzten 30 Jahre waren für die Pinis und auch die Fans von ElfQuest ein großes Auf und Ab. Wer aber von Marvel und DC Comics abgelehnt wird, seinen Traum über Eigenverlag verwirklicht und nun doch von beiden Giganten verlegt wurde bzw. wird, der hat bewiesen, dass der gerade Weg eben nicht immer der einzig funktionierende ist. Es ist auch diese Ebene dieses Comics, die mir Mut macht für eigene Ideen bzw. Träume. Biografie der Entstehung, die einzigartige Welt, die uns aber doch das Hier und Jetzt gewahr werden lässt und ein einzigartiger Zeichen- und Erzählstil – ElfQuest hat soviel Facetten, dass es mir persönlich völlig gleich ist, ob es ins Kino kommt (wie einst mal von Warner Bros. angedacht) und/oder irgendwann aufhören wird. Das was bislang war, ist das, was bleibt – und zwar immer wieder auf’s Neue.
2 Comments
booknapping.de
12. Mai 2017 at 16:08Liebe Steffi,
ich bin froh, dass du mich auf diesen Beitrag bei dir hier im Blog aufmerksam gemacht hast. Ich kenne nicht so viel der Historie rund um Elfquest und Warp Graphics und habe in deinen Zeilen wieder Neues gefunden. Es freut mich sehr, dass dich diese wundervolle Reihe so sehr inspiriert hat und du ihr über jetzt schon zwei Jahrzehnte die Treue hältst.
Ich habe noch lange nicht alle Hefte und Bände gelesen, war aber von Beginn an fasziniert von den Erzählungen. Gelesen habe ich Elfquest, Hidden Years, Shards und einige Specials. Und ich freue mich auf all die Geschichten, die noch auf mich warten.
Liebe Grüße,
Sandra
Bratphoenchen of the Week #8: Über Tetris als Traumatherapie, Ghost in the Shell und Diversitäts-Probleme bei Marvel | Fried Phoenix
2. April 2017 at 12:59[…] Herzenswelten: Elfquest – Der Weg der Wolfsreiter Steffi stellt auf ihrem Blog Geekgefüster die Comicsaga Elfquest vor. Die gehört auch zu meinen Lieblingen und hier erfährt man auch, wieso: Der Bezug zur realen Welt und deren Problematiken, der Umgang mit Geschlechteridentitäten, Sexualität und vieles mehr ist das, was Elfquest ausmacht. […]