August 1914: Der erste Weltkrieg naht, es herrscht eine seltsame Stimmung in Europa, doch noch ist alles friedlich, alles ruhig. Auch auf Abingdon Hall, dem Landsitz der Familie Greville, herrscht noch Alltag, eine Ruhe vor dem Sturm. Während Lady Stanmore über einen passenden Heiratskandidaten für ihre Tochter Alexandra nachdenkt, kämpft Alexandras Bruder Charles mit einer scheinbar chancenlosen Liebe, von der sein Vater Lord Stanmore, der wiederum keinen Zugang mehr zu seinem Sohn findet, nichts hält. Dazwischen lassen sich auch noch die anderen Bewohner des Hauses sehen: Das Dienstmädchen Ivy, die Brüder Roger und Fenton Wood-Lacy und ein Neffe der Lady aus Amerika. Und so beginnt sich die Geschichte um die Familie der Grevilles und natürlich auch um Abingdon Hall zu entspinnen…
Es gibt Bücher, denen tun ihre Cover und Klappentexte einfach nicht gut.
“Abingdon Hall: Der letzte Sommer” ist so ein Buch.
Denn nach dem Foto der jungen Frau auf dem Umschlag und der Betonung von “Partys und Romanzen” auf der Rückseite könnte man zu sehr eine etwas seichte, aber eben ganz nette Story rund um eine mehr oder weniger starke Heldin erwarten, etwas, das ich irgendwann einmal zwischendrin lese, vielleicht sogar mit der einen oder anderen mäßigen Erotikszene oder im besten Fall wenigstens einer vollkommen unrealistischen, aber süßen Lovestory.
Zwar liegt es in der Natur eines Buchs und einer Geschichte, dass auch “Abingon Hall” seine Drehungen und Wendungen, seine Dramen und Freuden, aber das leicht kitschige Label, das auch bei mir v.a. durch das Cover gedanklich provoziert wurde, wird dem Buch einfach nicht gerecht.
Aber was ist “Abingdon Hall” dann? Ein historischer Roman, natürlich, noch dazu einer der schon fast mit der Manier eines Fantasy-Schinken mit den Namen der Akteure und ihres Umfelds umspringt, der mich mitreißt und zugleich verwirrt, weil ich trotz der langsamen, ruhigen Erzählweise kaum mit den diversen Namen hinterher komme. Diese Vielzahl der Personen, die einen leicht den Überblick verlieren lässt, ist es zugleich auch, die für mich die Faszination der Geschichte wahrt. Ich schlage das Buch auf und die Geschichte saugt mich komplett zwischen die Seiten, lässt mich nicht mehr los, auch wenn ich als moderner Mensch an einigen Stellen von historischen Gegebenheiten oder gesellschaftlichen Konventionen, die einfach im modernen Europa nicht einmal mehr in Ansätzen vorhanden, regelmäßig verwirrt war.
Trotzdem mag ich diesen Stil. Nicht nur, weil es dadurch sehr leicht fällt, sich im England des frühen 20. Jahrhunderts wieder zu finden, sondern auch weil der Autor dadurch die Illusion einer recht sauberen historischen Genauigkeit erschafft, die zu hinterfragen ich als Leser kaum in Erwägung ziehe.
Mich hat dabei die gerade zu Beginn recht bedächtige Erzählweise und natürlich auch der gesamte Plot ein wenig an “Downton Abbey” erinnert und Fans der Serie würde ich wohl auch “Abingdon Hall” als Buchtipp empfehlen. Denn das gesamte Setting – gerade in Kombination mit der schön aufgebauten Illusion von historischer Authentizität – und den sehr bildlichen und einsaugenden Schreibstil Phillip Rocks erzeugt eine ähnlich faszinierende Stimmung rund um eine reiche, elitäre Familie, die eigentlich dabei doch nichts anderes als ein Beispiel für ein aristokratisch durchorganisiertes System sind, dessen ineinandergreifende Zahnräder für uns moderne Menschen immer fremder wirken.
Kurz: Eine wunderbare Empfehlung für Fans von langsam erzählten und durchaus komplexen historischen Romanen, die Masse an Fakten, die die Geschichte mit sich bringt, sollte man aber nicht unterschätzen.
Infos zum Buch:
ISBN: 978-3-442-38304-7
Preis: 9,99€ [D]
Kaufen?
Hier kommt ihr zu “Abingdon Hall: Der letzte Sommer” auf der Verlagswebsite.
(An dieser Stelle auch noch einmal ein Dankeschön an den blanvalet für das Rezensionsexemplar.)
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