Ich mag Buchfiguren, die irgendwie schwierig sind. Die nicht dem klassischen Heldentyp entsprechen, nicht herzensgut sind und auch nicht durchgehend moralisch einwandfreie Entscheidungen treffen. Stattdessen will ich Charaktere, die eher in verschiedene Graustufen einzuordnen sind, die leicht antagonistische Züge haben, die Fehler machen. Und mit denen ich mich aber trotzdem identifizieren kann, die mich mitfühlen lassen und mir das Gefühl geben, ihre Geschichte ist das, was im Moment wirklich zählt.
“When everyone knows you’re a monster, you needn’t waste time doing every monstrous thing.”
Leigh Bardugos Grischa-Trilogie habe ich geliebt und mich daher unglaublich gefreut, als sie mit Six of Crows und Crooked Kingdom eine neue Reihe veröffentlichte. Trotzdem war ich absolut nicht vorbereitet auf das, was diese Bücher und vor allem eine ganz bestimmte Figur mit mir gemacht haben.
“My Wraith would counsel mercy. But thanks to you, she’s not here to plead your case.”
Without another word, he tipped Oomen into the sea.
Die Bücher spielen in Ketterdam, einer Stadt, in der das Geschäft und der Handel heilig sind. Gier ist hier eine Tugend und nichts ist wichtiger als Macht, Einfluss und Geld. Neben wohlhabenden Kaufleuten, die zumindest vor dem Gesetz als ehrlich gelten, wird Ketterdam im Hintergrund von kriminellen Banden beherrscht, die untereinander um die Vorherrschaft kämpfen. Diese kontrollieren die Unterwelt der Stadt – Prostitution, Sklavenhandel, Raub, Glücksspiel. Eine dieser Banden, die Dregs, werden de facto von Kaz Brekker angeführt. Er ist kompliziert, die meiste Zeit nicht unbedingt sympathisch, geht eher in Richtung Antiheld und ist ohne Frage meine liebste Buchfigur aller Zeiten.
Geels looked at Kaz as if he was finally seeing him for the first time. The boy he’d been talking to had been cocky, reckless, easily amused, but not frightening – not really. Now the monster was here, dead-eyed and unafraid. Kaz Brekker was gone, and Dirtyhands had come to see the rough work done.
In Ketterdam ist Kaz auch unter dem Namen „Dirtyhands“ bekannt, was unter anderem daran liegt, dass er als einer der brutalsten und grausamsten Verbrecher der Stadt gilt. Schon alleine das hat mich beim Lesen vollkommen aus den Socken gehauen, denn wie oft finden wir in Büchern einen Protagonisten, der so geschrieben ist? „Böse“ Hauptfiguren gibt es viele, doch meistens werden sie tatsächlich nur als solche dargestellt und sind dann eigentlich trotzdem klassische Helden, die niemals jemanden verletzen würden. Kaz ist tatsächlich all das, was diese Charaktere nicht sind – um einer der einflussreichsten und mächtigsten Kriminellen von Ketterdam zu werden, geht er buchstäblich über Leichen und ist bereit, (fast) alles zu tun, was notwendig ist. Angetrieben wird er dabei von seinem Hass auf Pekka Rollins und dem tief verwurzelten Drang, Rache an ihm zu üben. Kaz wurde nicht in Ketterdam geboren, sondern kam als Neunjähriger nach dem Tod seiner Eltern mit seinem Bruder Jordie in die Stadt. Pekka Rollins, der Anführer einer anderen Bande, betrog sie um ihr Geld und war verantwortlich dafür, dass Jordie an einer Seuche starb, Kaz so seinen Bruder verlor und sich daraufhin mit Lügen, Betrug und Gewalt zu einer der gefürchtetsten Personen in Ketterdam entwickelte. Natürlich ist davon nur wenig moralisch vertretbar, aber es macht die Geschichte düsterer, faszinierender, Kaz als Charakter echter, greifbarer.
Der Tod seines Bruders veränderte Kaz zudem noch auf ganz andere Art und Weise – ebenfalls krank wurde er fälschlicherweise für tot gehalten und nachts zusammen mit seinem Bruder halb begraben unter weiteren Seuchenopfern dem Meer überlassen. Die Leiche seines Bruders als Schwimmhilfe nutzend, schaffte er es zwar zurück an Land, war danach aber tief traumatisiert. Seitdem kann er keinen Hautkontakt mit anderen Personen mehr ertragen und trägt dauerhaft Handschuhe, um sich zu schützen. Schon das kleinste Gefühl von Haut auf Haut löst Panik bei ihm aus und zieht ihn in seine Erinnerungen an diese Nacht zurück.
He felt himself falling, and then he was caught in a tangle of bodies. He tried to scream, but he was too weak. They were everywhere, legs and arms and stiff bellies, rotting limbs and blue-lipped faces covered in firepox sores.
Und vielleicht ist es genau das, was Kaz zu meinem absoluten Lieblingscharakter macht. In kaum eine andere Figur konnte ich mich so hineinversetzen, in kaum einer anderen Figur habe ich mich selbst in so vielen Facetten wiedererkannt. Wenn Menschen im Fernsehen oder auch in meinem Umfeld sich über Krankheiten dieser Art lustig machen oder eloquente Kommentare wie „haha, der ist ja echt komplett verrückt“ abgeben, dann werde ich jedes Mal wieder unbeschreiblich wütend.
Sich im Badezimmer die Hände blutig zu scheuern, bis sich die Haut zu lösen beginnt und trotzdem weiterzumachen. Die eigene Mama nicht mehr umarmen zu können, ohne eine Panikattacke zu kriegen. Zu weinen und zu weinen und zu weinen. Zu wissen, dass so ein Verhalten nicht normal ist, aber trotzdem nichts dagegen tun zu können. All das ist nicht lustig. Es ist furchtbar und schrecklich und kostet so viel Kraft, dagegen anzukämpfen.
Since that night among the bodies and the swim from the Reaper’s Barge, he had not been able to bear the feeling of skin against skin. It was excruciating to him, revolting. It was the only piece of his past that he could not forge into something dangerous.
Angst vor Berührungen und der Drang nach Rache führen dazu, dass Kaz nur sehr schwer Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen kann. Er ist kalt, abweisend und unfreundlich; gegenüber den Mitgliedern seiner Bande verhält er sich distanziert. Trotzdem wird im Verlauf der beiden Bücher deutlich, dass er es nichtsdestotrotz nicht völlig schafft, niemanden an sich heranzulassen. Er verändert sich, wächst, öffnet sich mit der Zeit immer weiter und lässt zu, dass ihm Menschen wichtig werden. Am besten zeigt sich das wohl durch Inej, auch the Wraith genannt. Einst eine talentierte Zirkusakrobatin, wurde sie von Sklavenhändlern entführt, an ein Bordell verkauft und später von Kaz angeheuert, um Informationen für ihn zu sammeln. Es ist fantastisch, was Leigh Bardugo hier mit der Beziehung der beiden geschaffen hat – Kaz kann sein Trauma nicht vergessen und will sich nicht eingestehen, dass Inej ihm wichtig ist; Inej kämpft mit ihren Erinnerungen und weiß nicht, ob sie jemals vergessen kann, was ihr angetan wurde.
“How will you have me?” she repeated. “Fully clothed, gloves on, your head turned away so our lips can never touch?”
He released her hand, his shoulders bunching, his gaze angry and ashamed as he turned his face to the sea.
Am Ende sind es die kleinen Schritte, die die Geschichte so besonders machen. Kaz entwickelt sich weiter, wächst mit jedem Satz ein bisschen mehr. Es ist nicht von einem Augenblick auf den anderen alles gut, nein. Aber Schritt für Schritt, Seite für Seite, verändert sich etwas. Im letzten Kapitel blicken Kaz und Inej gemeinsam aufs Meer hinaus, warten darauf, was die Zukunft bringt. Und nehmen sich langsam, ganz langsam, an den Händen.
Und auch deswegen liebe ich Kaz so sehr – manche Dinge mögen aussichtslos erscheinen, aber irgendwann geht es trotzdem nach vorne. Manche Krankheiten kann man vielleicht nicht völlig heilen, aber man schafft es eben doch, sie auf ein Minimum zu reduzieren. Böse Gedanken verschwinden nicht einfach, aber man kann gegen sie ankämpfen, bis sie irgendwann nur noch ganz dumpf und weit entfernt im Hinterkopf zu hören sind.
Es ist wichtig, auch solche Charaktere in Büchern zu finden. Viel zu oft treffen wir nur strahlende Helden und Heldinnen in weißer Rüstung, die keinen einzigen Fehler zu haben scheinen und durch und durch perfekt sind. Aber genau das sind wir Menschen nun mal nicht. Wir treffen fragwürdige Entscheidungen, sind arrogant, handeln egoistisch. Wir kämpfen mit Problemen, haben Krankheiten, Traumata oder Zwangsstörungen. Bücher können dabei helfen, uns diesen Dingen zu stellen, zu erkennen, dass man damit nicht alleine ist. Und vielleicht zeigen sie manchen Menschen, dass es nicht okay ist, über so etwas zu lachen. Dass es falsch ist, Betroffene als verrückt zu bezeichnen, als überreagierend, als gestört. Dass man nicht einfach abwinken sollte.
Wenn Kaz und Inej sich schließlich an den Händen halten, dann ist es das bittersüße Ende einer Geschichte, in die wir uns verliebt haben. Gleichzeitig ist es aber auch ein Sinnbild dafür, nicht aufzugeben. Es gibt so viel, wofür es sich lohnt, weiterzumachen. Und egal, wie schlimm etwas scheint, wie überwältigend und furchtbar – es wird besser, immer.
She felt his knuckles slide against hers. Then his hand was in her hand, his palm was pressed against her own. A tremor moved through him. Slowly, he let their fingers entwine.
For a long while, they stood there, hands clasped, looking out at the gray expanse of the sea.
1 Comment
Carolin
30. Juni 2018 at 23:27Darf ich das bitte so unterschreiben? Ein wunderbarer Beitrag, der nochmals verdeutlicht, warum Kaz so ein spannender Charakter ist und Leigh Bardugo es einfach drauf hat. 😀