Der Zähler tickt. Als ich diesen Artikel schreibe, zeigt meine PlayStation 4 7.774 Trophäen an. Wenn ihr ihn lest, sind es vermutlich schon einige Dutzend mehr. Vor nicht allzu langer Zeit hat sie mich in ihren Klauen gehalten, diese Zahl. Jedes vollständig abgeschlossene Spiel nur ein weiterer, mühsamer Schritt hin zur perfekten Sammlung. Heute jedoch läuft sie nur noch nebenher, ist ein netter Bonus, aber hält mich nicht mehr gefangen. Danken kann ich dafür vor allem SEGA und ihrem Drachen von Dojima.
Fürs Spielen belohnt werden, das ist das Metagame, das seit der siebten Generation an Konsolen ihre jeweiligen Online-Services dominiert. Je nach Plattform gibt es unterschiedliche Auszeichnungen zu sammeln, und keine davon haben mich so gepackt wie Sonys Trophäen.
Trophäen sind wie der Gamerscore der Xbox, nur belohnender, weil ich statt schnöder Punkte Pokale in unterschiedlichem Edelmetall bekomme. Trophäen sind wie die Achievements auf Steam, nur wertiger, weil das PlayStation-Ökosystem nicht so mit Trash Games geflutet ist. Trophäen sind etwas wert, ein tolles Metagame, dass durchstöberbare Erinnerungen schafft und mich dazu motivieren, alles anzusehen, was ein Spiel zu bieten hatte. Sie verhalfen mir zu mehr Spaß mit einem einzelnen Spiel. Sie zeigten mir und anderen, was für ein vielseitiger, ausdauernder Spieler ich war. Dafür meldete ich mich 2010 sogar in einem Forum für Trophäen-Leitfäden und Diskussionen rund ums Vervollständiger der Trophäenlisten an. Dort teilten Leute Bilder mit ihren Platin-Trophäen, riesige JPGs mit aufgereihten, kleinen Bildchen ihrer Errungenschaften. Platin-Trophäen, das waren die Krönchen auf dem Kuchen, die beste Besonderheit zu anderen Achievement-Systemen. Für das Erlangen aller anderen Trophäen erhielt man eine besonders wertvolle, meist liebevoll gestaltete Trophäe, die in der Liste neben vervollständigten Spielen auch noch separat angezeigt wurde: Platin. Sie wurde ein Ziel, auf dass ich bei den Spielen, die ich mochte, ganz besonders hinfieberte. Ich hatte Spaß daran, tollen Spielen wie Bayonetta, Dark Souls oder Fallout 3 meine Ehrerbietung zu erweisen, indem ich alles tat, was das Spiel zu bieten hatte, und stolz meine Zuneigung zum Spiel nach außen präsentierte.
Zumindest machte es Spaß, diese Trophäen zu sammeln, bis sich meine Beziehung zu ihnen ins Ungesunde verkehrte. Denn irgendwann war es nicht mehr genug, die Spiele, die ich liebte, zu platinieren. Ich versuchte es mit allen Spielen, egal wie viel oder wenig ich sie mochte. Nicht um der Platin willen, wie ich es in besagtem Forum viel erlebt habe, wo sich haufenweise Spielende Wettkämpfe darin lieferten, die meisten Platintrophäen pro Woche oder insgesamt erspielt zu haben. Nein, dieser blauglänzende Pokal war für mich immer ein Symbol dafür, alles gesehen zu haben. Ich konnte kein Spiel mehr abbrechen, keines nach der Hauptgeschichte weglegen, wenn es mir gereicht hätte. Das endorphinausschüttende “Bling!” der letzten Trophäe wurde zur katartischen Erlösung, weil ich das Spiel erst dann zu deinstallieren bereit war. Und es war ganz wörtlich erlösend, denn was zuvor kam, war oft schlichtweg Arbeit. Während ich es ausgesprochen genossen habe, Darksiders, das beste Zelda-Spiel aller Zeiten, ein zweites Mal für alle Upgrades und Geheimnisse zu spielen, habe ich einen absurden Aufwand betrieben, um die letzte Trophäe zu bekommen. Reite 100km auf dem Pferd. Im normalen Spielverlauf schaffte man davon allerhöchstens ein Fünftel, die restlichen 80km mussten gegrindet werden. Und so klemmte ich ein Gummiband in genau dem richtigen Winkel über den Analogstick meines PS3-Controllers und schaltete den Fernseher um, um Krieg nicht drei Stunden dabei zuzusehen, wie er im Kreis ritt. Irgendwann sah ich im Menü nach – die Trophäe war da, die Platin auch, das “Bling!” hatte ich nicht einmal mitgekriegt. Lediglich die Liste hatte ihr +1 bekommen und ich konnte Darksiders endlich deinstallieren. Obwohl ich es unglaublich gerne mag, habe ich es bis heute nicht wieder angefasst.
Auch Spiele, die ich nicht leiden konnte, haben sich über diesen Komplettierungswahn in mein Gedächtnis eingebrannt. Assassin’s Creed III? Immer noch der langweiligste, vergessenswerteste Teil der Reihe, in meinen Augen, und trotzdem habe ich nach Abschließen der Hauptstory und konsequentem Deinstallieren noch lange daran gedacht. Denn ich hatte nur 68% aller Trophäen des Hauptspiels erreicht, oder gerade mal 49%, zählte man alle Addons hinzu! Mein Schiff war nicht vollständig aufgerüstet, mein Anwesen nicht komplett bevölkert, ich hatte nicht volle Synchronisation in den miserablen Hauptquests erreicht. Ich hatte es ‘nur’ durchgespielt. Und das nagte mehrere Jahre an mir, bis hin zu der Verlockung, mir vielleicht doch noch mal eine Version des längst verkauften Spiels zuzulegen und mich erneut durchzuquälen.
Alle Beispiele, die ich bisher genannt habe, liegen weit in der Vergangenheit, aber dieser innere Drang nach 100% wohnt mir auch heute noch inne. Dass das ein Problem ist, wenn man viele Spiele für Websiten und Forschungsprojekte rezensiert, studiert, ein Privatleben hat und Beziehungen pflegen will, braucht fast nicht erwähnt werden. Ich bin mir heute bewusst, dass dieses Verhalten Ausdruck von Umständen in meinem Leben war, über die ich keine Kontrolle hatte: Das Gefühl, der Welt verloren und machtlos gegenüberzustehen, ließ sich ganz vortrefflich ausblenden, wenn ich systematisch eine digitale Welt komplettieren und vollständig unter meine Kontrolle bringen konnte.
Doch diese Erkenntnis musste man mir erst beibringen. Ich brauchte einen Trigger, in diesem Fall ein Spiel, das mich mit einer Mischung aus der reinen Liebe, die ich ihm entgegenbrachte, und der schieren Flut an Inhalt, den ich unmöglich jemals komplett sehen geschweige denn abschließen konnte, in die Knie zwang und zum Nachdenken brachte.
Dieser Trigger war Yakuza 3. Und danach Yakuza 4. Und dann Yakuza 5. Und dann, erst vor kurzem, Yakuza Kiwami. Kazuma Kiryus ausufernde Mafia-Abenteuer in Tokyo, die ich bis heute in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge verschlinge, sind so voller Dinge, Geschichten, Minispiele und Aussichten, dass mich jedes Einzelne davon immer wieder erschöpft, aber glücklich zu Boden ringt. Nach 60 Stunden in Yakuza 3 war ich so rundum zufrieden mit mir und Kamurocho, dass ich das Spiel deinstallierte. Der Fortschrittsbalken steht auf mageren 25%. 80 Stunden mit den vier Helden von Yakuza 4 brachten mir 28%. Unglaubliche 120 Stunden in meinem Serienfavoriten Yakuza 5, die ich zu japanischer Popmusik tanzend, Bären in den Bergen jagend, Taxi fahrend, Baseball spielend und Verbrecher prügelnd zubrachte, erarbeiteten mir stolze 48%. Und das hübsche Kiwami, mein erster Titel der Reihe auf der PS4, schloss ich mit 45% ab.
Nach jeder dieser emotionalen, wunderbar inszenierten, detaillreichen Achterbahnfahrten war ich glücklich, und wollte mehr. Aber nicht mehr Content. Mehr Geschichte, mehr Charaktere. Und so deinstallierte ich die Spiele und installierte den nächsten Teil. Und diese angebrochenen Trophäenlisten dienen mir zu genau dem Zweck, den ich ihnen zu Beginn angedacht hatte: Ich gucke gelegentlich rein, lese mir die Beschreibungen der Trophäen durch, die ich habe, und erinnere mich gerne zurück an die schöne Zeit. Langsam aber sicher haben mir diese Spiele wieder beigebracht, ein gesundes Ende zu finden und mich auf neue Dinge zu freuen. Wenn ich nun ein Spiel platiniere, dann wirklich, weil ich dafür glühe, weil es Spaß macht und weil der Zeitaufwand zu rechtfertigen ist. Yakuza hat es mir möglich gemacht, Minispiele, auf die ich schlichtweg keine Lust hatte, liegen zu lassen, und Passagen, die mir zu schwer sind, guten Gewissens aufzugeben. Ich muss nicht Karaokemeister werden und mein ferngesteuertes Auto muss nicht jedes Rennen gewinnen. In diesem Sinne: Danke, Kiryu.