Man könnte ja meinen, Böse hätten es leicht. Sie müssen sich nicht mit moralischen Bedenken herumschlagen und können einfach machen, was sie wollen. Böse sind böse, weil sie, naja, eben böse sind. Ich finde das immer ziemlich langweilig, wenn Gegenspieler und Schurken einfach nur um der Bösartigkeit willen böse sind. Deswegen hat mir „Assassin‘s Creed Rogue“ so gut gefallen, weil es sich dem Böse-Werden einer Figur widmet.
„Assassin‘s Creed“ ist eine Spielreihe, auf der ich irgendwie hängen geblieben bin. Anfangs haben mich vor allem das Gemisch aus Historie und Fiktion und das grandiose Artwork begeistert, aber immer wieder faszinierten mich auch die erzählten Geschichten und Figuren. Ein besonderes Highlight dieser Figuren ist für mich Shay Patrick Cormac in „Assassin‘s Creed: Rogue“, der im Spiel die Seiten wechselt und vom Assassinen zum Templer wird.
Ja, noch einmal zum Mitschreiben, im Spiel vom Assassinen zum Templer.
Eigentlich sind in dem Franchise ja die Assassinen die Guten und die Templer die Bösen, Shay wechselt also quasi auf die dunkle Seite. Diesen Sturz in die Finsternis kann man in „Rogue“ nicht einfach nur spielen, er ist dabei extrem plausibel erzählt. Natürlich wurden die klaren Fronten bereits zuvor immer wieder aufgebrochen, es gab schon vorher immer wieder Templer mit verständlichen und auch noblen Motiven. Doch mit Shay bietet sich ein anderer Blick in den Orden der Templer, der deutlich zeigt, dass Assassinen und Templer oft zwei Seiten derselben Medaille sind.
Ich glaube, „Rogue“ war für viele einfach nur ein nettes Assassin‘s Creed, es gab eine coole, neue Waffe, die Schiffssteuerung war aus „Assassin‘s Creed Black Flag“ vertraut (nur Eismeer statt Karibik) und zur Abwechslung jagte man mal die Assassinen statt die Templer. Aber für mich hatte das Spiel von Anfang an viele Zwischentöne, die in einer starken Geschichte zeigen, dass der Weg in die Hölle oft mit guten Vorsätzen gepflastert ist.
Denn gute Vorsätze hat die Haupt- und Spielfigur Shay viele, er ist kein grausames Monster. Am Anfang ist er ein Schüler der Assassinen, jung, begabt und draufgängerisch. Er muss sich beweisen und bekommt dafür besondere Aufträge, die er nicht vollständig versteht. Also eigentlich ein typischer Anfang eines Computerspiels, ein typischer Assassine in der beliebten Spielreihe.
Natürlich passiert auch hier das große Unglück, das den jungen Helden aus seiner bisherigen Situation reißt und zur Änderung des Charakters und der Geschichte führt. Und genau dieses Unglück hat es in sich: Shay wird nicht nur auf eine Mission geschickt, die er nicht versteht. Diese schlägt auch noch auf tragische Weise fehl und kostet zahlreiche Unschuldige das Leben. Als Shay nach Sinn und Zweck dieser Mission fragt und versucht, diese mit den eigenen moralischen Maßstäben und den Idealen der Bruderschaft in Einklang zu bringen, erhält er weiterhin nur ausgesprochen dürftige Antworten. Auch das ist ja eigentlich nichts Neues in der Reihe, ebenso wenig Shays Wut und Zweifel. Doch Frust und Verzweiflung stauen sich so sehr auf, dass Shay aus der Bruderschaft der Assassinen flieht.
Die Templer nehmen ihn auf, von ihnen bekommt er Unterstützung, Lob und auch den emotionalen Support, den ihm die Assassinen zuvor nicht gegeben haben. Auch seine guten Vorsätze kann er mitnehmen. Die Templer manipulieren ihn letztlich (was ich beim Spielen eine ganze Weile vor Shay verstanden habe), aber anders als zuvor die Assassinen vermitteln sie ihm nicht das Gefühl für wichtige Informationen zu dumm zu sein. Es ist also vollkommen verständlich, dass er bei ihnen bleibt. Und dann kann er nicht mehr zurück, da er den ersten seiner ehemaligen Brüder getötet hat. Diesen ersten Assassinen tötet man mit Shay noch, um sich nicht zu verraten. Aber danach beginnt der schmerzvolle Weg immer tiefer in die Dunkelheit.
Der Abstieg ist schmerzhaft, es treten alte Bekannte aus anderen Spielen auf und man zerstört mit Shay Bindungen, an denen man zuvor hart gearbeitet hat. Mir tat es bei einigen von Shays Opfern wirklich weh, sie zu töten. Auch wenn es rein vom Erzählerischen vollkommen nachvollziehbar war, tat es weh.
Dabei gab es von Anfang in den Zwischentönen Hinweise, dass Shay in seiner Situation nicht glücklich ist. Die wenigsten der Assassinen sind freundlich zu ihm: Hope Jensen (Ausbilderin und Shays große Liebe) erwidert seine Gefühle nicht, der Chevalier de La Vérendrye (Entdecker und historische Figur) ist ein arroganter Mistkerl und sogar Liam O’Brien (nicht nur Mit-Assassine, sondern Freund) vertröstet ihn immer wieder, dass er schon alles erfahren würde, wenn er soweit sei.
Doch das alles ließe sich auffangen und Shay weiterhin für die Assassinen begeistern, wenn er keine Katastrophe auslösen und viele Unschuldige in den Tod reißen würde. Wenn dabei nicht seine eigenen Maßstäbe und guten Vorsätze mit seinen für ihn unverständlichen Handlungen für die Bruderschaft kollidieren würden.
Es erscheint beim Spielen vollkommen konsequent, dass er verzweifelt, die Assassinen verlässt und die Seite wechselt. Es ist traurig, tragisch und schmerzhaft. Aber es ist vollkommen nachvollziehbar, dass er einer von den Bösen wird.
Das macht Shay für mich als Figur so stark und zu einem Herzenscharakter. Er ist alles, was ein Assassine in den anderen Spielen auch ist, seine Geschichte ist klassisch und fügt sich nahtlos in die Reihe ein, obwohl man auf der „bösen Seite“ spielt. Shay ist ein ambivalenter Charakter, der mir wie kein anderer gezeigt hat, welche erzählerischen Möglichkeiten Computerspiele bieten. Wie ähnlich sich Assassinen und Templer sind. Wie leicht der Weg in die Dunkelheit sein kann. Wie schnell Missverständnisse und mangelnde Kommunikation alles zerstören können, was man vorher oft mühevoll aufgebaut hat. Wie sehr man Spielfiguren liebgewinnen kann. Wie schnell aus guten Absichten böse Taten und aus Helden Schurken werden. Dass jede Geschichte zwei Seiten hat.
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