Netflix’ neue Marvel-Produktion “Jessica Jones” hat mich überrascht. Eindeutig. Ursprünglich hatte ich nicht einmal vor, die Serie anzufangen, wo ich doch a) sowieso kein großartiger Superheldenfan bin, dementsprechend b) auch nicht so wirklich was mit Marvel im Allgemeinen anfangen kann und c) mich auch schon Daredevil nicht so wirklich überzeugt oder gar umgehauen hat. Letztere Serie habe ich nach ein paar Folgen abgebrochen, weil ich nicht richtig mit Figuren und Story warm wurde, und im Grunde hatte ich auch damit gerechnet, dass “Jessica Jones” dasselbe Schicksal erleiden würde
Schließlich klang der Plot jetzt auch nicht so umwerfend: Eine Privatdetektivin sieht sich mit der Rückkehr ihres Entführers und damit Schurken der Story, Kilgrave, konfrontiert. Dazu kommt noch, dass sie übernatürlich stark ist und er den Willen anderer Menschen manipulieren kann. Hab schon schlimmere und schon bessere Ausgangssituationen für eine Geschichte gesehen. Auf der Suche nach einer neuen Serie für den einen oder anderen gemütlichen Fernsehabend oder verprokrastinierten Nachmittag, habe ich aber dann doch noch einmal einen Blick reingeworfen. Und bin überrascht worden.
Zum einen wären da die Figuren, allen voran die (Anti-)Heldin selbst: Gerade Jessica ist eine sehr kantige Figur, die gleich einen ganzen Berg an Problemen mit sich herumschleift. Sie hat das Trauma ihrer Abhängigkeit von Kilgrave, der sie mittels Gedankenmanipulation unter seine Kontrolle gebracht hat, trinkt (vermutlich in Folge dessen) zu viel und ist insgesamt nicht der umgänglichste Mensch bzw. allgemein auf einem selbstzerstörerischen Trip. Sie ist sarkastisch, zynisch und wirkt vor allem sehr müde. Sie stößt Menschen ständig von sich und versucht immer und immer wieder, ihrer Umgebung (und wahrscheinlich auch sich selbst) einzureden, dass ihr alles egal sei, auch wenn in der Realität das nicht ganz so stimmt. Ihre übernatürlichen Kräfte? Sind eben da, sie versteckt sie nicht, aber spielt auch nicht ständig Superwoman. Und das ist eine Facette, die ich an ihr so mag: Sie versteckt nichts. Sie ist eine Figur, die sich selbst so nimmt, wie sie eben ist und wird auch den Zuschauern genau so präsentiert. Keine Mary Sue, die eigentlich zu perfekt um wahr zu sein ist, das einfach nur nicht einsehen will und spontane Minderwertigkeitskomplexe bekommt, weil… äh isso. (Ja, ich spiele auf “Twilight” und Bella “Ich kann ja nicht ohne Edward leben” Swan an.) Sie hat viele Fehler, wie gesagt eine Menge Probleme und schlägt sich trotzdem durch ihr alles andere als einfaches Leben. Die Figur ist damit überraschen vielschichtig und gut geschrieben, ihr Verhalten fügt sich wunderbar in die eigentliche Story und ihre Charakterisierung ein und bleibt als eine wie gesagt “kantige” Figur durchgehend interessant.
Genauso passend ist aber auch der Bösewicht zur Heldin inszeniert, Kilgrave, der von der ersten Folge an wie ein böser Geist über allem hängt. Die ersten paar Folgen tritt er gar nicht aktiv auf, man hört nur ab und zu mal seine Stimme, kann einen Schatten sehen o.ä., während das Gespenst seiner Taten und seiner gemeinsamen Vergangenheit mit Jessica allerdings schon die ganze Zeit allgegenwärtig ist. Die Macher haben sich Zeit gelassen, um ihn aufzubauen bevor er überhaupt richtig auftritt, die Panik, die Jessica, die sich sonst eigentlich sehr gut verteidigen kann, vor ihm hat, wird durch dieses Gespenst sehr viel früher deutlich als Kilgrave tatsächlich aktiv handelt bzw. auftritt. Bis zu dem Augenblick, in dem man als Zuschauer zum ersten Mal innerhalb der Handlung sein Gesicht präsentiert bekommt, ist schon einiges an charakterlicher Modellierarbeit der Figur geschehen und das wiederum hat Kilgrave für mich (abgesehen davon, dass er von David Tennant gespielt wird, was ohnehin schon meine Neugier geweckt hatte) interessant gemacht.
Dazu kommt noch, dass mit ihm ein Schurke aufritt, der etwas anders ist als die meisten seiner Kollegen aus anderen Serien. Klar, er ist irre und gefährlich, aber auf eine andere Art als selbst diejenigen Antagonisten aus vergleichbaren Geschichten, die als Bedrohung wirklich etwas her machen. Er badet nicht gefühlt in Gedärmen, braucht das nicht einmal, um creepy zu sein.
Und das ist auch das Geniale an “Jessica Jones”: Die Spannung entsteht an vielen Stellen durch das, was nur angedeutet oder nicht gesagt wird. Die bereits erwähnte über mehrere Folgen aufgebaute Angst vor Kilgrave, sein obsessives Verhalten, Jessicas Trauma und die Dinge, die sie getan hat und die ihr angetan wurden, während sie unter Kilgraves Kontrolle stand. All diese Dinge werden mir als Zuschauerin Häppchenweise zugeworfen und ich frage mich ständig, was die nächste düstere Enthüllung ist. Zugleich bleiben die Figuren nie auf der Stelle stehen, sie entwickeln sich ohne Ende, werden immer weiter modelliert und wenn es nur ein weiteres Häppchen ist wie Kilgraves Protest bzw. versuchte Rechtfertigung, dass er manchmal seine eigene Gabe nicht kontrollieren könne, weil er jedes Wort auf die Goldwage legen muss. So gewinnt so ziemlich jede Figur mit jeder weiteren Folge an Tiefe, selbst der Antagonist persönlich, der eigentlich von der ersten Minute an keine oder wenigstens sehr schlechte Chancen auf Sympathiepunkte hat. (Die gewinnt er genau genommen auch nicht, aber er wird wenigstens so dargestellt und charakterisiert, dass sein Verhalten aus seiner Figurenlogik heraus Sinn macht.)
Ich könnte hier noch eine Weile weitermachen, denn (ich denke, man merkt mir das auch an) ich bin begeistert davon, wie genau geplant und sauber konzipiert diese Serie zu sein scheint. Die Figuren sind logisch, komplex und interessant, selbst der Oberpsychopath Kilgrave folgt seiner ganz eigenen Logik, die man vielleicht nicht richtig verstehen, aber doch begreifen kann. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich David Tennant in dieser Rolle einfach nur feiere. Aber auch Krysten Ritter hat mir sehr gut als Jessica gefallen, im Grunde waren es für mich diese beiden, von denen die gesamte erste Staffel gelebt hat, obwohl auch noch einige andere interessante Figuren auf- und z.T. auch abgegangen sind.
Lange Rede, kurzer Sinn: Eine absolute Watchempfehlung meinerseits.
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