Das klirrende Geräusch von Besteck auf Tellern vermischt sich mit dem Knistern von Zeitungspapier und dem in sich verschwimmenden Gemurmel, das großen Menschenansammlungen eigen ist. Hier und da werden bereits die ersten Schulbücher gelesen und die Feuer prasseln in den Schalen, obwohl es noch gar nicht so kalt ist. Der Geruch von Pergament, Pancakes, Pfefferminztee und Baked Beans liegt in der Luft. Es wird gelacht und sich unterhalten; über die Ferien, die Familie, den neuen Stundenplan und das Wohlergehen des Haustiers. Der Geschmack von Kürbissaft auf der Zunge weckt müde Geister, als das kaum hörbare Flattern unzähliger Flügel die Ankunft der Eulenpost verkündet. Es ist Zeit. Aufbruchstimmung liegt in der Luft. Der Beginn von etwas Neuem und doch so Altbekanntem. Gestern war der 01. September. Schulbeginn für so viele — wenn auch nur imaginär.
Harry Potter in Zahlen klingt weitaus weniger ansprechend, wenn auch ungleich beeindruckender: 20 Jahre alt. 7 Bücher. 4.095 Seiten. 1.084.170 Wörter. 79 Sprachen (ab Oktober auch Schottisch als Sprache Nummer 80). 450 Millionen verkaufte Printausgaben. 9 Filme (innerhalb des gesamten Harry Potter Universums). 1 Theaterstück. Geschätzter Markenwert von 25 Milliarden US-Dollar.
Um es in Albus Dumbledores leicht abgewandelten Worten zu sagen: “Ja, ja, gut gemacht, Rowling. Allerdings muss auch die emotionale Tragweite berücksichtigt werden.”
Ich könnte ganze Bücher mit der Analyse von Charakteren, der Verwendung der Heldenreise über die Buchreihe hinweg, Einordnung in Gattungen oder die vielen Kleinigkeiten, die mich an typischen Buchhelden wie Harry Potter stören füllen – aber hier geht es um Herzenswelten; um etwas das mich persönlich tief im Herzen bewegt und warum genau es das eigentlich tut. Natürlich spielen die oben genannten Faktoren dabei eine nicht zu geringe Rolle, aber lasst uns den Zeitumkehrer drehen und ganz an den Anfang springen — oder zumindest meinen persönlichen Anfang mit Harry Potter.
Ostern 2001. Mit zehn Jahren habe ich meinen ersten Harry Potter Band geschenkt bekommen. Ich erinnere mich daran, dass ich zwar schon zuvor sehr viel gelesen habe, aber “Der Stein der Weisen” das erste Buch war, welches ich wirklich tatsächlich selbst zum Essen nicht mehr aus der Hand gelegt habe. Heute bin ich davon überzeugt, dass meine Eltern sich in diesem Moment bewusst wurden, was genau sie da angerichtet hatten. Jetzt, nach unzähligen gelesenen Büchern, eigenständigen Recherchen und meinem Studium ist mir klar, warum ich eben dieses Buch so verschlungen habe. Die sanfte Art wie Rowling uns ihre magische Welt nicht nur erzählt, sondern gemeinsam mit Harry und seinen Freunden entdecken, immer wieder neu erleben und sich weiter vor unseren Augen zu einem schillernden Universum entfalten lässt, ist perfekt dafür sich in die Herzen junger (und älterer) Leser zu schleichen.
Für mein damals zehnjähriges Ich war es eine fantastische Erfahrung leicht skeptisch und doch irgendwie aufgeregt dem bis dahin völlig unwichtigen und auf einmal so lebensverändernden elften Geburtstag entgegen zu fiebern. Natürlich gab es keine Eulenpost. Dafür aber jedes weitere Buch, das bis dahin in der Reihe erschienen war (selbst wenn man mich dafür um Mitternacht vier Dörfer weiter zur Buchhandlung fahren musste). Ich habe mit den Figuren gelacht, geweint, geschaudert und unter der Last eines drohenden Krieges gelitten.
Und ohne es bewusst zu bemerken, bin ich gemeinsam mit den Charakteren älter geworden; die kleinen Problemchen, welche in diesem Alter so welterschütternd erscheinen, haben sich parallel zu denen von Harry, Ron und Hermine verändert; Freundschaften sind gewachsen, zerbrochen oder neu entstanden und langsam habe ich gemeinsam mit meinen Lieblingsfiguren gelernt, dass das Leben mehr beinhaltet als Unterricht, die erste Liebe und Hausaufgaben.
Genau dieser Punkt ist es, an dem ich hier ansetzen möchte. Der Grund, warum ich auch nach 16 Jahren noch felsenfest mit großen, wundernden Augen inmitten des bunten Harry Potter Universums stehe und staune.
Für mich persönlich liegt es nicht an Rowlings Schreibstil oder dem Hype um das Fandom, ja nicht einmal in erster Linie am Plot. Was mich bis heute — vielleicht auch gerade heute — begeistert sind die Figuren und was sie vermitteln. Ich werde mich an dieser Stelle zügeln und keinen Essay über die dramaturgisch literaturwissenschaftliche Analyse schreiben, auch wenn es sich meiner Meinung nach lohnt sich eine solche Arbeit, von welchen es einige wenige gute im Internet zu finden gibt, zu Gemüte zu führen. (Für Interessierte: z.B. hier und hier)
Es war mir lange nicht bewusst, zumindest nicht in dem heutigen Ausmaß, wie viel Tiefe in den Figuren aus Harry Potter steckt. Nehmen wir als erstes Beispiel das Offensichtliche: Harry Potter, Ron Weasley und Hermine Granger — das Triumvirat der gesamten Reihe. Jeder einzelne stellt einen Stereotyp dar; der Held, der Sidekick und die Streberin. Dennoch gelingt es den Figuren sich durch ihre Interaktion miteinander von eben diesen Stereotypen zu lösen, so schlägt beispielsweise die regelversessene Hermine vor einen illegalen Duellierklub zu starten, nur um Harry den nötigen Anstoß zu geben und Ron wird im Quidditch zum Held des Tages, als Harry aus eigener Schuld nicht in der Lage ist daran teilzunehmen.
Die Dynamik dieser drei Figuren ist aber nicht nur in dieser Hinsicht lehrreich. Harry, Ron und Hermine bzw. die innige Freundschaft unter ihnen bildet einen der Kernpunkte der Reihe und damit auch einen der Punkte, die mich als Kind und Jugendliche Wichtiges gelehrt hat. Rowling stellt die Freundschaft nicht als unzerbrechliches Band auf den ersten Blick dar. Die Freundschaft entwickelt sich, ist lebendig und dehnt sich manchmal bis zum Zerreißen. Durch die anfängliche Antipathie zwischen Ron und Harry auf der einen Seite und Hermine auf der anderen Seite zeigt Rowling, dass man manchmal einen zweiten Blick auf einen Menschen braucht um bewerten zu können, ob derjenige nicht doch zu einem Freund werden könnte. Und auch aus der realistischen Darstellung von Rons Eifersucht auf Harry, die im vierten Band einen Höhepunkt erreicht und im siebten kurzzeitig in anderem Ton wiederholt wird, kann man lernen, dass manche Freundschaften es wert sind gekittet zu werden.
Neben dem Hauptthema der Freundschaft (nicht nur Harry, Ron und Hermine, sondern später auch noch die Mitglieder der DA), finden sich so unzählige andere Themen und Noten, Schattierungen und Töne, dass ich doch einen Essay schreiben müsste, um allen halbwegs gerecht zu werden. Deshalb möchte ich nur die aufzählen, die dafür sorgen, dass Harry Potter noch immer zu meinen persönlichen Herzenswelten gehört.
Rowlings Umgang mit den weniger schönen Dingen des Lebens haben mich schon in jungen Jahren fasziniert. Ohne belehrend oder deprimierend zu wirken, werden in Harry Potter so schwere Themen wie Verwaisung, Tod, Diskiminierung, Rassenideologie und Krieg nicht nur angesprochen, sondern auch verarbeitet. Natürlich sind die Bücher selbst Jugendbücher und damit was die tatsächliche Grausamkeit von Diskriminierung und Krieg angeht relativ zahm. Dennoch kann gerade an dem Beispiel von Tod gut erkannt werden, wie die einzelnen Figuren damit umgehen. Rowling zeigt, dass es keine ‘richtige’ Art gibt damit umzugehen, sondern indem sie unterschiedliche Charaktere durch ähnliche Erfahrungen gehen lässt, dass es in Ordnung ist anders als andere zu trauern, dass der Umgang mit Tod für jeden eine individuelle Sache ist und dass es okay ist loszulassen (wie Harry im Fall von Sirius am Ende von Band fünf dank Sir Nicholas zu erkennen beginnt).
Mit starken Figuren wie Hermine Granger, Ginny Weasley, Molly Weasley, Luna Lovegood, Fleur Delacour und noch so vielen anderen wird jungen Mädchen gezeigt, dass es gut ist eine eigene Meinung zu haben. Dabei ist aber jede einzelne Figur für sich selbst so individuell und verkörpert eine andere Art von starker Frau, dass es mein kleines feministisches Herz höher schlagen lässt und sicher zu sehr großen Teilen dazu beigetragen hat, wie ich heute bin.
Hermine zeigt, dass es auch cool sein kann ein Bücherwurm und fleißig zu sein.
Ginny zeigt, dass ‘bossy’ manchmal genau das Richtige ist.
Molly zeigt, wie badass man als Mutter und Frau am Herd sein kann.
Luna zeigt, wie schön schräg ist.
Fleur zeigt, dass selbst eine Diva ein starkes Herz hat.
Es ist meiner Meinung nach gerade in diesen Zeiten von Twilight, Shades of Grey und besorgniserregenden Frauenbildern in Young Adult und New Adult von unbeschreiblicher Wichtigkeit, dass jungen Mädchen gezeigt wird was als Frau möglich ist, auch ohne Mann oder Beziehung. Im gleichen Atemzug muss ich die Sache auch umdrehen. Es muss auch Jungen gezeigt werden, dass sie nicht den Macho machen müssen oder zum Kontrollfreak werden sollten, um als männlich zu gelten, sondern dass auch weichere Charakterzüge wie bei Neville Longbottom oder Newt Scamander völlig in Ordnung sind.
Eine meiner persönlichen Schwächen ist es, dass ich die Hauptfiguren meist zu langweilig finde und interessierter an den Bösewichten oder den Antihelden bin. Harry Potter hat eine solche Vielfalt an eben diesen komplexen Antagonisten, dass es mir schwer fällt für diesen Beitrag ein Beispiel zu wählen. Da wäre Tom Riddle, der als Lord Voldemort das ultimative Böse verkörpert, dessen Charakter aber dennoch begründet ist und sogar von Albus Dumbledore und Harry Potter über ein ganzes Buch hinweg bis ins Detail ergründet wird.
Und natürlich Severus Snape, der mittlerweile Kultstatus erreicht hat und an dem sich die Geister scheiden. War er nun ein Böser der zum Guten wurde um einen Bösen zu spielen, damit er am Ende der Gute sein kann? Oder war er schon immer gut, wurde aber aus Umständen heraus böse und dann doch wieder gut? Rechtfertigen seine stalkerhaften Züge und seine krankhafte Obsession mit Lily Potter tatsächlich alles Böse, dass er bis zu seiner Bekehrung zum Guten verbrochen hat? Es eröffnen sich unzählige Diskussionen zu dieser Figur und mindestens genauso viele Meinungen. Es bleibt aber unbestritten, dass es eine Figur mit unerwarteter Tiefe ist, die noch immer fasziniert.
Vermutlich sollte ich auch noch kurz Sirius Black und James Potter an dieser Stelle erwähnen, die gemeinhin als die Guten gelten, aber in ihrer Jugend und Sirius auch noch nach Askaban einige unschöne Charakterzüge aufweisen. Oder Peter Pettigrew — der Verräter, dessen Gründe zwar verwerflich, aber bis zu einem gewissen Grad zumindest logisch sind. Vergessen darf ich bei dieser Aufzählung auch Draco Malfoy auf keinen Fall. Eine Figur, die sich vom Schulhoftyrann und Vatersöhnchen zu einem komplexen Charakter mit schwierigem Hintergrund und einer Reihe schlechter Entscheidungen unter Zwang entwickelt hat.
Es ist diese Tiefe und Fülle an Figuren und Charakteren, die alle scheinbar mühelos höchstgradig individuell und zudem noch in ethnischer Vielfalt auftreten, die mich noch heute von Harry Potter schwärmen lassen. Es mag vermutlich die Magie gewesen sein, die mich als erstes in ihren Bann gezogen hat und dieser Buchreihe einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen verschafft hat. Aber nach so vielen Jahren sind es die Figuren, die mich noch immer faszinieren, über die ich noch immer nachdenke und von denen ich bei jedem neuen Besuch in Hogwarts noch ein Stückchen mehr entdecke.
2 Comments
Jule
24. September 2017 at 11:09Hallöchen 🙂
Was für ein toller Beitrag. Ich durfte sogar feststellen, dass wir fast zur gleichen Zeit in die Welt von Harry Potter eingetaucht sind. Mein erstes Buch bekam ich im April 2001 und auch ich bin mir so mancher Schwächen der Bücher bewusst, gleichzeitig sehe ich aber die unglaublichen Stärken, wie du sie schon aufgezählt hast.
Liebe Grüße
Jule
infraredhead
2. September 2017 at 15:39Was für eine wunderwunderwunderbare Besprechung! Du fasst damit perfekt und auf den Punkt gebracht meine eigenen Gedanken zusammen und nennst die Gründe, warum auch ich Harry Potter so liebe. Und das alles auf so schöne Weise, dass ich deine Rezension am liebsten allen zeigen möchte, die Harry Potter noch nicht kennen und die sich gegen die Lektüre wehren, weil sie nur eine fantastische Geschichte erwarten, um die viel Hype gemacht wurde und wird. Durch die Inhaltsangaben geht das natürlich nicht, aber vielleicht hast du ja irgendwann einmal Lust, einen Überrede-Text zu schreiben!
Liebe Grüße!