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Gibt es in Videospielen wirklich einen Handlungskanon?

3. September 2017

Wann immer ich mich wieder mit Fanfictions und der Community darum beschäftige, fasziniert mich, wie stark sich darin Fankultur konzentriert und wie scharf immer wieder die beiden Ebenen von Fandom und dem Handlungskanon des Werks getrennt werden. Begriffe wie OTP (One True Pairing), AU (Alternate Universe) oder “ship” für Paare, die in einer offiziellen Geschichte nicht zusammen sind, aber von denen Fans immer vermuten, das sich da etwas entwickeln könnte oder sollte – Das alles grenzt immer wieder die Fankultur mit ihren Wünschen und Diskussionen von dem ab, was z.B. ein Autor im Text vorgegeben hat.

Das geht so weit, dass oft unterschieden wird, ob etwas Teil des Handlungskanons, Headkanons oder fast vollständig vom Ausgangsmaterial losgelöst ist. Kanon meint damit die strenge Auslegung des Originalstoffs, d.h. ein unverändertes Aufgreifen des Materials, das in einer Geschichte präsentiert wird. Headkanon dagegen kann z.B. das bewusste Ignorieren von Teilen des Kanons, z.B. eines Nachfolgers zum ersten Teil einer Buchreihe, oder die Annahme von Handlungssträngen, die eigentlich nur unterschwellig oder unbestätigt zum Ausdruck kommen.

Normalerweise sind die Nuancen dazwischen eher Themen, die nur den harten Kern eines Fandoms kümmern, der sich auf der Suche nach der einzig wahren Version einer Geschichte selbst in Details verliert, allerdings werden beide Begriffe bei interaktiver Fiktion und Spielen auch außerhalb dieses Nischen-Kontexts wieder interessant. Denn auch wenn vielleicht Begriffe wie “Handlungskanon” oder “lore” nicht in jeder Diskussion fallen: Die Art, wie wir über Fiktion reden, ist davon bestimmt, was wir in einer Erzählung als “gegeben” betrachten. Und anders als bei einem Buch oder Film ist dieser gegebene Teil bei einem Spiel oft nicht so klar bestimmbar.

Sobald ein Spiel mir anbietet, mich an einem bestimmten Punkt zwischen zwei Wegen zu entscheiden, kann der Handlungsverlauf, den zwei einzelne Spieler für sich und ihren Durchgang als gegeben betrachten, sich grundlegend unterscheiden. Der Kanon wird automatisch durch “Entscheidung A” und “Entscheidung B” getrennt. Eine Art offizielle Bestätigung, was denn nun der idealtypische Handlungsverlauf wäre, wird entweder erst durch die Entwickler oder ein Nachfolgespiel bestimmt, während aber gleichzeitig die jeweils andere Variante durch ihre Existenz und Möglichkeit nicht vollständig entwertet wird. (Von selbst erstellbaren Protagonisten ganz zu schweigen)

Und genau da findet sich auch der interessante Punkt: Ein Handlungskanon wird im Umkehrschluss bei Spielen ein oft viel individuelleres Erlebnis, je weiter verzweigt die Erzählung wird. In einigen Spielen wird die Diskussion um die Handlung deshalb sehr schnell sehr unübersichtlich, was man u.a. an BioWare-Spielen sehr schön beobachten kann, bei denen kaum eine Diskussion ohne umständliche Formulierungen im Stil von “Wenn du diese und jene Entscheidung getroffen und gleichzeitig die Romance mit Figur X gespielt hast, dann lebt drei Spiele später Figur Y doch noch” auskommt. Und selbst bei “The Witcher 3”, das immerhin einen festgelegten Protagonisten hat, spalten sich die Diskussionen z.B. um Triss und Yennefer gerne mal sehr schnell darin, mit wem von beiden man denn nun Geralt verkuppelt hat.

Gibt es also eine Art Handlungskanon in Spielen? Vermutlich nicht oder wenigstens nur begrenzt. Aber der Mechanismus als solcher macht den Blick auf einige Diskussionen darum durchaus spannend, weil sie zeigt, dass wir als Spieler offenbar immer wieder doch auf der Suche nach dem Heiligen Gral der Handlungsverläufe sind. Und dem Heiligen Gral entsprechend werden wir das wohl – zumindest bei manchen Spielen – nie absolut finden. (Aber vielleicht ist ein Headkanon auch gar nicht so schlecht.)

Artikelbild: “What was before” von Geirahod / geirahod.deviantart.com (CC BY-NC-ND 3.0)

  • Geekgeflüster
    4. September 2017 at 12:58

    Eindeutig! Hat mir bei ME:A auch ein bisschen das Herz gebrochen, dass das Ding insgesamt (auch jenseits direkter Bezüge) so sehr an der Vorgänger-Trilogie hing und mehr Franchise-Vertreter als eigene Geschichte war. Das hat dem Spiel zusätzlich zu allem anderen ganz besonders nicht gut getan.

  • Yannic
    4. September 2017 at 11:18

    Ich glaube, dass dies auch ein Konzept ist, das Mass Effect Andromeda sehr geschadet hat.

    ES FOLGEN SPOILER ZU ME: ANDROMEDA

    WIRKLICH!

    SPOILER!

    LETZTE GELEGENHEIT!

    So, jetzt darf sich niemand mehr beschweren. Also: Die Tatsache, dass in Mass Effect Andromeda die Initiative die Milchstraße vor dem Eintreffen der Reaper verlassen hat und somit nicht klar ist, welches Kanon-Ende nun das “wahre” ist. Allerdings wird im späterne Verlauf vor allem gegen Ende der Story angedeutet, dass das “Kanon”-Ende tatsächlich das sein könnte, dass Sheppard den Katalysator nicht nutzt und die Reaper alles zerstören. Ein mutiger Schritt, der allerdings viele Leute verprellt haben könnte.
    Natürlich wäre es ungleich schwieriger gewesen die Entscheidungen zu importieren. Aber sie hätten es auch dabei belassen können, dass eben nicht bekannt ist was geschehen ist – sie haben sich aber für ein bestimmtes Ende entschieden, nachdem sie alles dafür getan haben sich nicht entscheiden zu müssen. Eine seltsame Mischung.

  • Geekgeflüster
    4. September 2017 at 10:50

    Sehe ich auch so, allerdings könnte man natürlich z.B. bei “The Witcher” argumentieren, dass “The Witcher 2” einen Spieler nicht zwingt, den ersten Teil nachzuholen, sondern eine Art Default-Version anbietet, wenn man mit dem zweiten Teil neu einsteigt. Wenn man sich jetzt wirklich auf die Suche nach einem Kanon begeben wollen würde, könnte man natürlich diese Version als Kanon ansehen, auch wenn ich das nicht für sinnvoll und zu kurz gegriffen halte. Gerade bei einem Rollenspiel wie der “Witcher”-Reihe entwickelt sich eben ein guter Teil der Geschichte im Kopf des jeweiligen Spielers bzw. auch über die Reihenfolge der Quests und was man eben vom optionalen Inhalt zur Kenntnis nimmt oder auch nicht. Spielerlebnis sticht da denke ich einfach offizielle Vorgaben, aus denen man mit Gewalt einen Kanon konstruieren könnte.

  • Yannic
    4. September 2017 at 10:37

    Ein sehr interessanter Text, wobei ich hier noch einen Gedanken einwerfen will: Ich glaube, dass Spiele niemals kanonisch sein können. Ein Kanon würde bedeuten, dass für alle Leute alle Ereignisse gleich abgelaufen sind. Aber durch die Komponente des Spiels und der Beeinflussung, ist dies mMn unmöglich.
    Der Eine schaut sich länger ein Flugblatt an, der andere liest die Bücher in Skyrim alle durch. Aber auch in stringenteren Spielen geht man vielleicht Bossgegner unterschiedlich an.
    Spiele hier mit Büchern und Filmen zu vergleichen ist glaube ich in diesem Fall für das Medium unpassend. Macht doch gerade diese Beeinflussung den Reiz am Spiel aus. Jeder erlebt sein eigenes Abenteuer – selbst wenn die Geschichte vorgegeben ist. Bei Spielen mit Entscheidungen schlägt das natürlich noch härter zu, weil zuweilen ganze Handlungsstränge andere sind. Allein in The Witcher 2 fehlt einem ein ganzer Akt, je nachdem wie man sich in Akt 1 entschieden hat, ist man entweder auf dieser oder jener Seite eines Schlachtfeldes.

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Aurelia Brandenburg - Historikerin und Bloggerin. Ich beschäftige mich meisten mit Mittelalter, Digital Humanities und Game Studies, nicht zwingend immer in dieser Reihenfolge. Auf Geekgeflüster schreibe ich seit 2012 über Popkultur, inzwischen oft aus einer feministischen Perspektive und manchmal auch über Popkultur und Geschichte, insbesondere Popkultur und Mittelalterrezeption. Außerdem schreibe ich auch für Language at Play. Auf Twitter findet man mich als @hekabeohnename.


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