“A Plague Tale: Innocence” wartet mit einer jungen Frau als Protagonistin auf und schafft es dennoch nicht, ihre Geschichte zu erzählen. Und damit ist das Spiel nicht allein, sondern schlicht nur ein Beispiel für ein sehr viel größeres Muster.
Eine junge Frau stürzt durch die Dunkelheit der Nacht auf ein Kind zu. Schreiend schließt sie den Jungen in ihre Arme, zieht ihn an sich. Im nächsten Moment sieht man beide, das Kind in ihren Armen, beide haben die Augen geschlossen und Stirn an Stirn gelehnt. Sie hält ihn, inmitten des Chaos, das um sie tobt, die Arme um ihn geschlungen. Bereit, alles zu tun, um ihn zu beschützen. So, wie sie es schon die ganze Zeit getan hat.
Eine Handlung um eine weibliche Protagonistin, aber doch nicht ihre Geschichte
Die junge Frau ist Amicia, die Heldin von “A Plague Tale: Innocence”, und der Junge ist ihr Bruder Hugo. Die Szene, obwohl sie sich eigentlich erst recht spät im Spiel ereignet, ist nur ein Beispiel in einer schier endlosen Reihe von Momenten, mit denen das Spiel die Beziehung zwischen Amicia und Hugo inszeniert und dabei Amicas Opferbereitschaft und uneingeschränkten Beschützerinstinkt betont. Das klingt erst einmal ganz gut, denn dadurch präsentiert das Spiel eine Protagonistin, die meistens rettet statt gerettet zu werden und noch dazu eine starke Motivation gereicht bekommt, gleichzeitig ist das Ergebnis allerdings auch recht paradox: “A Plague Tale: Innocence” will die Geschichte einer jungen Frau erzählen und erzählt doch die Geschichte diverser anderen Figuren, nur nicht ihre.
Amicia setzt zwar Himmel und Hölle in Bewegung, um ihren Bruder zu beschützen, zugleich dreht sich eigentlich sehr viel mehr der Handlung um sehr generische Antagonisten und ein mysteriöses Kind mit übernatürlichen Fähigkeiten. Amicia selbst dagegen wird durch die gesamte Handlung des Spiels hindurch getrieben, sie reagiert fast nur auf den Druck, den andere Figuren ausüben und wenn sie einmal aktiv ist, dann nur, um ihren Bruder zu retten. Das alles wäre ein Stück weit erst einmal angesichts des Plots nur logisch, aber gleichzeitig ist sie damit aber auch Teil eines grundsätzlichen Versuchs, Spiele häufiger mit nuancierten (Frauen-)Figuren auszustatten, nur um sie dann am Ende doch nur wieder in alte Erzählmuster zu drängen.
Von der Schwester zur Mutter zur Märtyrerin
Im Grunde hat Amicia alles, nur keine eigenständige Rolle. Beim Spielen erfahre ich kaum etwas darüber, wer sie ist oder wie sie tickt, denn alles, was sie ist, wird geradezu verschlungen von ihrer Rolle als Mutter bis nichts mehr übrig bleibt. Denn auch wenn ihre Beziehung zu Hugo eigentlich die zwischen Bruder und Schwester ist, so ersetzt sie nicht nur von Anfang an ihre eigene Mutter, sondern bekommt auch keinen narrativen Spielraum außerhalb dieser Rolle. In dem Moment, in dem Amicia die Verantwortung für ihren Bruder übertragen bekommt, existiert sie nur noch als Mutterfigur, die panisch versucht, ihren Bruder zu retten, und dabei alles aufgibt.
Diese Aufopferung und ultimative Aufgabe ihrer selbst für ein Kind, das sie zu beschützen hat, ist nicht nur eine im Grunde zutiefst konservative Idee, sondern auch eine, die in ihrer Inszenierung dann nur noch darauf ausgelegt ist, das Leid einer Frau möglichst bis auf den letzten Tropfen auszukosten. Für ihren Bruder kriecht Amicia durch Schmutz, klettert über Leichen und ermordet andere Menschen, ganz egal, was es sie selbst oder andere kostet. Wann immer sie leidet, sitze ich als Spielerin in der ersten Reihe und bekomme noch jede noch so kleine Gefühlsregung der Angst und Trauer direkt unter die Nase gerieben und mit leuchtenden Pfeilen markiert, nur um dann zu beobachten, wie sie selbstverständlich dennoch weitermacht. Sie kann nicht einmal anders. Denn sie ist eine Mutter, eine Heilige, und Hugo zu beschützen ist ihr Martyrium.
All das könnte man nun einfach der konkreten Handlung von “A Plague Tale: Innocence” zuschreiben, in der eben eine junge Frau in eine unmögliche Situation geworfen wird, wäre es nicht so typisch sowohl für Mutter- als auch Frauenfiguren in digitalen Spielen, besonders in den letzten paar Jahren. Spiele wie das “Tomb Raider”-Reboot, “Hellblade: Senua’s Sacrifice” oder eben nun “A Plague Tale” warten alle mit jungen Frauen als Protagonistinnen auf und gestehen ihnen allen eine gewisse Emotionalität zu, nur um dabei dann alle in ähnliche Muster von leidenden Töchtern, Partnerinnen oder Müttern zu verfallen. Es wird gestöhnt, geweint, geschrien, schlicht gelitten um des Leids Willen. Die Inszenierung wird zum Marktschreier, der das Leid einer jungen Frau ausstellt und anpreist. Seht her, sie hat Gefühle!
Seht her, seht her, sie leidet!
Die Idee dahinter ist natürlich bei allen drei Beispielen, der oft willkürlichen Gewalt von Digitalen Spielen wieder eine Bedeutung zu geben, indem psychische Belastungen abgebildet werden, allerdings hinterlässt die Tatsache, dass das hier immer auf dem Rücken von jungen Frauen geschieht, die noch dazu stark über ihre Rolle als junge Frau und im Fall von Senua und Amicia auch noch als trauernde Partnerin bzw. Mutter und Schwester charakterisiert werden. So schön der Impuls auch sein mag, digitaler Gewalt ihre Beliebigkeit ein wenig zu nehmen, so enttäuschend und zugleich wenig überraschend ist es auch, dass das bisher besonders durch und auf Kosten von jungen Frauen geschehen zu scheint. Denn eigentlich wäre es nicht schwer gewesen, Amicia in “A Plague Tale” nicht in die Rolle einer mütterlichen Märtyrerin zu drängen, es war nur eben auch sehr leicht, sich narrativ darauf auszuruhen.
Da ist es auch kein Zufall, dass Amicias Vater, der wohl ein erfahrener Krieger sein soll, direkt zu Beginn ermordet wird, während ihre Mutter zwar von ihren Kindern getrennt wird, aber überlebt. Digitale Mütter sind Heilige, digitale Väter abwesend oder unheilig. Beatrice und Amicia sind die beiden Kräfte, die Hugo und damit ein Kind jederzeit beschützen, sowohl on als auch off screen für ihn ihr Leben riskieren und sich in jeder Hinsicht aufopfern. Dass sie beide innerhalb der Handlung leben und nicht wie Amicias Vater getötet werden, liegt an ihrer Rolle als Mütter, deren Aufgabe noch lange nicht vorbei ist.
Frauen werden aufgeräumt, Männer dürfen unabhängig sein
Und erneut ist das als Einzelbeispiel nicht einmal schlimm oder etwas Schlechtes, es ist nur bitter, wenn man bedenkt, wie oft Spiele ihre Frauenfiguren in solche Rollen drängen. “Assassin’s Creed: Syndicate” wusste nichts mit Evie Frye anzufangen außer sie in eine Beziehung und damit eine Rolle als Partnerin aufzuräumen. Beide “Dishonored”-Spiele behandeln Emily und Jessamine zwar auch als Kaiserinnen, aber sehr viel prominenter als große Liebe und Tochter Corvos. In “The Witcher 3” ist die im Plot erst einmal übergeordnete Rolle von Ciri, Geralts Ziehtochter zu sein, was ihm die Motivation gibt, sie retten zu wollen. In “Hellblade” ist Senua davon getrieben, ihren Liebsten zu retten, und steckt damit in der Rolle einer aufopfernden Partnerin.
Jede dieser Frauenfiguren mochte ich. Manche mehr als andere, aber im Grunde mochte ich sie. Und genau deshalb spricht es Bände, wie oft selbst interessantere und nicht übermäßig sexualisierte Frauenfiguren in Spielen über ihre Rollen als Partnerin, Tochter, Schwester oder Mutter zu definieren. Und wie oft diese Rolle dann im schlimmsten Fall gut genug erscheint, um einen eigenen Handlungsstrang und Spannungsbogen zu ersetzen. Frauenfiguren, die so vieles sein könnten, bleiben darüber definiert, dass sie in einer Beziehung zu einem Mann stehen, selbst wenn dieser Mann abwesend ist. Sie werden nicht losgelöst davon und wenn sie es bereits sind, wird eine Neue geschaffen oder eine Alte wieder in den Vordergrund gerückt. Das ist bitter und das ist schade. Denn im Grunde hätte jede dieser Figuren eigentlich Besseres verdient. Auch Amicia.