“Assassin’s Creed: Odyssey” wird zu Recht für seine Frauenfiguren und besonders seine Protagonistin Kassandra gelobt. Und genau das sagt sehr viel über den Stand der Debatte über Frauen in Spielen.
Kassandra aus “Assassin’s Creed: Odyssey” ist eine wunderbare Figur und je länger ich mit ihr spiele, desto mehr liebe ich die Dinge an ihr, die ich zu Beginn vielleicht nur mochte. Sie ist sarkastisch, stark, eher grob, leidenschaftlich, muskulös und ich komme nach wie vor nicht ganz darüber hinweg, wie wunderbar unsexualisiert ihre gesamte Inszenierung ist. Kassandra ist die Videospielheldin, auf die mein sechzehnjähriges Ich eigentlich immer gewartet hatte, als sie sich mit Begeisterung durch die Geschichten von Ezio und Altaïr gespielt hat, aber immer etwas enttäuscht von den Frauen drumherum war. Seitdem hat sich viel geändert, gleichzeitig aber auch nicht. Und Kassandra verdeutlicht beides.
Darf ich vorstellen? Kassandra, misthios.
Im Grunde ist es ja ironisch: Ubi-“Frauen sind ja so schwierig zu animieren”-soft und die “Assassin’s Creed”-Reihe, die sich zuvor mit Blick auf die Frauenfiguren nie so richtig mit Ruhm bekleckert hatte, bekommen es in dem Moment hin, eine Frauenfigur und Protagonistin zu liefern, die schlicht nicht einfach nur eine Frau, sondern eine Figur wie jede andere ist, in dem die Interaktionen derselben Frauenfigur in vielen Fällen ganz genauso für ihr männliches Pendant funktionieren müssen. In “Assassin’s Creed: Odyssey” kann ich mir zu Beginn frei aussuchen, ob ich mit Kassandra oder ihrem Bruder Alexios spielen möchte. Als Folge dieser Entscheidung verändern sich ein paar Details, aber über weite Teile des Spiels hinweg funktionieren die meisten Interaktionen mit NPCs unabhängig vom Geschlecht der von mir gewählten Figur und beide Geschwister werden jeweils meistens nur mit geschlechtsneutralen Begriffen wie “misthios” angesprochen anstatt ihrer Namen oder einer gegenderten Ansprache. Selbst die Mutter der beiden nennt im Zuge der Haupthandlung ihr älteres Kind an vielen Stellen nur “lamb” statt seines richtigen Namens oder eines gegenderten Kosenamens.
Mit anderen Worten: Für die NPCs macht es keinen Unterschied, ob Alexios oder Kassandra vor ihnen steht. Das mag zwar eigentlich Kostengründe haben und teilweise könnte man bei der einen oder anderen Nebenquest vielleicht streiten, ob diese Quest eher für die eine oder andere Figur geschrieben wurde, aber das Ergebnis bleibt dasselbe. Kaum jemanden interessiert es, ob Alexios oder Kassandra vor ihnen steht, beide sind einfach Held*in vom Dienst.
Das ist ein Stück weit sehr schön, weil ich mich endlich nicht über künstlich gegenderte Handlungsstränge und Nebenquests ärgern muss, die verkrampft Sexismus abbilden, der jetzt angeblich historisch sein soll, führt allerdings auch dazu, dass Kassandra fast automatisch in ein “Starke Frau”-Erzählmuster geschrieben wird, in dem sie erzählerisch vor allem für Eigenschaften als positiv und Heldin dargestellt wird, die meistens männlich konnotiert sind. Das macht Kassandra nicht zu einer schlechten Figur, ganz im Gegenteil. Kassandra ist für mich das vielleicht erste Beispiel für eine Figur, bei der eben dieses Erzählmuster tatsächlich gut umgesetzt wurde, gerade weil sie so unverblümt ist, wie sie ist. Kassandra ist grob, stark und hat absolut keine Zeit für irgendjemandes Bullshit. Markos hat irgendeine windige Geschäftsidee? Kassandra rollt mit den Augen und kontert mit einem trockenen Spruch. Sokrates will mit ihr über den idealen Herrscher oder den Wert eines Menschenlebens diskutieren? Kassandra bleibt unbeeindruckt. Stentor quatscht irgendetwas von Sparta, Ehre und Heldentum? Kassandra will nur wissen, wen sie denn jetzt töten soll.
Die vielleicht erste wirklich gut geschriebene “Starke Frau”
Es ist erfrischender als gedacht, in einer Reihe wie “Assassin’s Creed” plötzlich eine Frauenfigur vor mir zu haben, die sich scheinbar wirklich wohl in ihrer Haut fühlt. Eine Frauenfigur, die im Grunde einfach nur eine vollwertige Figur ist, ohne dass ihr Frausein eine echte Rolle spielt. Kassandra ist Kassandra. Sie ist eine Söldnerin, Attentäterin, steht leidenschaftlich für die ein, die ihr nahe stehen, und ist fest entschlossen, ihren Feinden ein Ende zu bereiten. Die Tatsache, dass sie eine Frau ist, kommt auf dieser Liste irgendwann ganz am Ende, irgendwo in einem Nebensatz. Zugleich wird ihr allerdings ihre Sexualität oder Emotionalität weder im Zuge der Romances, die sie eingehen kann, noch in anderen Handlungssträngen abgesprochen. Kassandra ist einfach … Kassandra. Nicht mehr und nicht weniger.
Das ist so beschrieben im Grunde nicht viel und eigentlich schon banal. Natürlich sollte jede*r Protagonist*in immer einfach eine vollwertige Figur und sie selbst sein. Figuren sind Figuren und mit dem Konflikt, den sie mit sich bringen, werden Geschichten erzählt, das ist jetzt wirklich keine neue Erkenntnis. Und trotzdem macht mich die Existenz von Kassandra lächerlich glücklich. Es macht mich glücklich, ausgerechnet in “Assassin’s Creed” eine Protagonistin zu sehen, die ernsthaft breitschultrig ist. Deren Muskeln man wirklich sehen kann. Deren Frisur und Rüstung ganz offensichtlich vollkommen darauf ausgelegt ist, zweckmäßig zu sein. Die nicht nur als “stark” und “grob” deklariert wird, sondern von der visuell und erzählerisch diese Eigenschaften auch aktiv zeigt. Eine Protagonistin, die einfach ernsthaft gut geschrieben und nicht nur halbherziges Gimmick ist.
Genauso macht es mich lächerlich glücklich, wie selbstverständlich “Assassin’s Creed: Odyssey” Figuren wie Aspasia und Xenia koexistieren lässt. Die kluge, zierliche und schöne Aspasia tritt innerhalb der Handlung ganz genauso selbstverständlich auf wie die hünenhafte, grobschlächtige Piratin Xenia und keine von beiden wird gegeneinander ausgespielt. Es gibt sie einfach und sie haben beide ihre ganz eigene Agenda, die auch nicht von anderen vereinnahmt werden kann. Wie auch Kassandra existieren sie einfach und gehen ihren Weg durch das antike Griechenland, so wie alle anderen beiden auch. So merkwürdig dieser Satz klingt: “Assassin’s Creed: Odyssey” begreift seine Frauenfiguren endlich als Menschen.
Viel Luft nach oben
Und gerade weil dieser Satz so merkwürdig klingt, lässt er popkulturell so tief blicken. Natürlich hatte ich auch schon bevor ich “Assassin’s Creed: Odyssey” angefangen hatte, viel Gutes über Kassandra gehört. Natürlich war mir klar, dass die Möglichkeit, endlich eine alleinige Protagonistin spielen zu können, ein überfälliger Schritt für die Reihe war. Aber natürlich habe ich auch ganz automatisch die Einschränkungen für dieses Lob erwartet, die ich immer erwarte.
Emily Kaldwin in “Dishonored 2”, Evie Frye in “Assassin’s Creed: Syndicate”, Amicia in “A Plague Tale: Innocence”, Senua in “Hellblade”, Ciri in “The Witcher 3” – All diese und mehr Frauenfiguren in verschiedenen Spielen mochte ich sehr, aber bei jeder einzelnen gab und gibt es mindestens ein Detail, das ich ganz bewusst ignoriere, weil es ohnehin keinen Sinn hat, zu hohe Erwartungen zu haben. Emily wird vor allem über ihre Rolle als Corvos Tochter definiert, mit Evie wusste man offenbar nichts anzustellen als sie in eine Beziehung aufzuräumen, Amicia wird von ihrer Mutterrolle geradezu verschluckt, der Auslöser für Senuas Handlung ist der Verlust ihres Geliebten und auch wenn ich die Liebe vieler anderer zu “Witcher 3” nachvollziehen kann, so trieft das Spiel doch vor Sexismus. Der Punkt ist: Kassandra und die Frauen von “Assassin’s Creed: Odyssey” haben mich positiv mehr als überrascht, weil ich eigentlich damit rechne, für eine halbwegs gute Frauenfigur in einem Spiel noch immer einiges an Abstrichen machen zu müssen. Abstriche, von denen ich viele weder bei Kassandra selbst noch bei einer der anderen Frauen um sie herum ausnahmsweise nicht machen musste.
Das ist ein bisschen bittersüß, weil es einerseits verdeutlicht, warum Kassandra so eine gut gelungene Figur ist, aber andererseits auch eine Erinnerung ist, auf was für einem niedrigen Niveau wir noch immer über Frauenfiguren in Spielen diskutieren. Es tut sich etwas und “Assassin’s Creed: Odyssey” ist einer von vielen Belegen dafür, aber gleichzeitig zeigt das Spiel auch, wie viel Potential diese Debatte noch hat. Und wie wunderbar es wäre, wenn es deutlich mehr Repräsentation in Spielen gäbe, die nicht einfach nur Token, sondern Menschen abbildet.
Henrik Larsson
24. November 2019 at 13:55Also für mich ist die Geschichte an sich so gut und interessant, das man mit einem Helden oder Heldin so etwas von dabei ist, wenn zurück versetzt, in die Griechische Vergangenheit inkl Mythologie inkl dem Beginn der Fantasy. Durch die alten geschrieben Phantasie-Geschichten, mit dem Sinn uns neugierig und gefesselt zu machen und die durch ihren Inhalt, immer wieder auch ein Teil unserer modernen Geschichten werden.
Wenn ich mich als dieser Geschichte Teil empfinde und das jetzt, und so fühlte ich es, die Rolle des Helden dieser gewaltigen, eben bis ins heutige Zeitalter, getragenen gewaltigen Mythologie, übernehme, ist hier endlich mal die Rolle der Frau als Held, perfekt platziert und ein mutiger Schritt. Denn wer hat zuvor jemals eine Frau in die hundertprozentige gleich starke Rolle platziert? Hier ist jetzt Aragon (Herr der Ringe) eine Frau, die die letzte Szene bekommt, die wichtig für den Film ist. Oder nicht Frodo sondern eine Frau trägt den Ring nach Mordor, die eben auch ihr ganzes Leben und ihre Kraft einsetzt um das alles zu überwinden. Wie es Frauen natürlich und ohne Wiederrede im wahren Leben einfach auch tun. Für ihre Liebsten aber eben auch für sich selbst (wie es Männer auch tun)! Nicht mehr nicht weniger. Es gibt natürlich genauso starke Frauen, die die Rolle von Kassandra übernehmen könnten, wie auch immer kurz und knapp sie für ein Spielkonzept inszeniert ist. Wenn man trotzdem noch ü100 Std spielen muss, um das Game durchzurödeln, wäre es bei der Größe des Spiels auch einfach zu viel gewesen noch mehr Story der Chars reinzuhauen. Weniger Quests wie hole mir doch Bitte die Briefen aus dem Haus von… Oder so, wären aber natürlich hier besser. Aber klar ist auch, das diese starke Kassandra das genauso gut, wenn nicht sogar etwas eleganter, löst als Alexis. Finde der so passend körperlich designten den meisten überlegenen Figur kauft man das leise meucheln noch mehr ab. Und ganz ehrlich darum geht es doch hauptsächlich bei einem Spiel wie ASSASSIN’s Creed oder?
Also für mich endlich die Hauptrolle, die eine Frau übernehmen sollte, damit es auch in Games einfach klargestellt ist, das sie gleichgestellt; nicht werden dürfen; sondern sind! Hier geht es nämlich nicht darum noch ein Statementment, für Frauen, alla Maryl Streep, sondern um eine Frau die ein Superheld ist, in Assassin’s Creed
Aurelia Brandenburg
24. August 2019 at 9:08Natürlich, aber wieder: Das ist mein Punkt. In AAA-Titeln sind Frauen oft noch unter der Mittelmäßigkeit des Writings, das Männer bekommen, hier sind sie ganz eindeutig auf einem Level. Dass das Writing eines Assassin’s Creed nichts Umwerfendes ist, ist hier nur normal.
Aurelia Brandenburg
19. August 2019 at 10:34Wo widerspricht jetzt die Tatsache, dass die geschlechtsneutralen Dialoge vermutlich aus Kostengründen so sind, wie sie sind, meinem Punkt, dass Kassandra ganz automatisch davon profitiert, dass sie durch diese Sparmaßnahme ganz genauso wie Alexios behandelt wird? Bzw. ist ja genau mein Argument, dass es etwas ironisch ist, dass so etwas Banales wie möglichst niedrige Produktionskosten dafür sorgt, dass eine Frauenfigur innerhalb ihrer Handlung nicht künstlich über ihr Frausein definiert wird, weil dann dieselbe Handlung schlecht oder gar nicht mit dem männlichen Pendant funktionieren würde. Und natürlich haben Xenia und Aspasia keine extreme Tiefe, aber das war nie mein Punkt. Mein Punkt ist, dass es für Spiele ein bisschen revolutionär ist, wenn eine Figur wie Xenia überhaupt existiert. Wie viele Spiele gestehen Männern eine ganze Bandbreite an Körperformen und Charaktertypen zu, benutzen aber für Frauen denselben oder sehr ähnliche Körper, Plotlines, Charaktereigenschaften, Ziele u.v.m. Ähnliches gilt für die Romances: Natürlich sind das mehr Plots, die sich um casual sex im Zuge einer kleinen Questreihe drehen und keine epischen Liebesgeschichten, aber das ist jetzt auch nicht wirklich etwas Ungewöhnliches. Assassin’s Creed hat seit Origins ganz offensichtlich stark aus dem Witcher-Handbuch gelernt und da war das schon ähnlich oberflächlich und cringy, nur mit dem Unterschied, dass Witcher meistens oberflächlich noch zu behaupten versuchte, hier große Liebesgeschichten zu erzählen, was Odyssey meiner Ansicht nach (zum Glück) über Bord geworfen hat. Und ich sehe ehrlich gesagt nicht, wie Kassandra da dann schlechter wegkommen würde als Alexios oder eine andere männliche Figur. Die Romances sind nicht tiefschürfend, ja, aber das sind sie grundsätzlich. Das liegt nicht an Kassandra, sondern an dem Konzept hinter diesen Quests, die das Spiel insgesamt verfolgt. Ich denke, damit lässt sich Odyssey insgesamt zusammenfassen: Nichts darin ist tiefschürfend, aber innerhalb dieses Rahmens bzw. dieser Prämisse, dass hier sowieso keine komplexen oder lebensverändernden Geschichten erzählt werden, holt das Spiel sehr viel aus seinen Frauen raus, sehr viel mehr als jedes Vorgängerspiel der Reihe und auch sehr viel mehr als viele andere AAA-Titel.
Admiral Ahmose
19. August 2019 at 0:06Ich glaube nicht das Kassandra eine gelungene Figur ist. Dito bei Alexios. Das inGame so gut wie niemand auf ihren Namen oder ihr Geschlecht oder überhaupt irgendeine charakterliche Eigenart eingeht liegt sicher einfach nur an Spargründen. Kurz angebunden sind im dem Game einfach alle. Ausführliche Dialoge sind sehr selten.
Xenia und Aspasia sind meiner Meinung nach auch nicht besser charakterisiert. Xenia hat kaum 20 Dialogzeilen. Sie ist eben der gutmütige Muskelberg. Halt als Frau statt als Mann. Und Aspasia ist eine Intrigantin, deren Intrigen am Ende nach hinten losgehen.
Die Romanzen sind meiner Meinung nach zum Fremdschämen. Da kommt auch Kassandra nicht gut weg.
Kassandra ist sicher ein Char die kein Topmodel ist und auch nicht im Blechbikini kämpfen muss. Beides ist gut so. Es war auch überfällig das endlich mal eine Frau in AC die Hauptrolle spielt. Aber gut geschrieben ist sie nicht. Eher minimalistisch geschrieben, denn viel Charakter jenseits von Heldin-sein entwickelt sie nicht.